Stephen Normandin raste fast vier Jahre lang durch Phoenix, mit Paketen im Kofferraum als Vertragsfahrer für Amazon. Dann erhielt er eines Tages eine automatisierte E-Mail. Die Algorithmen, die seine tägliche Arbeit begutachteten, hatten entschieden, dass er seinen Job nicht gut genug machte.

Der 63-jährige Armeeveteran war fassungslos. Er war von einer Maschine gefeuert worden.

Normandin sagt, Amazon habe ihn für Dinge bestraft, auf die er keinen Einfluss hatte, wie zum Beispiel verschlossene Wohnanlagen. Die Kündigung habe ihn hart getroffen, denn er sei stolz auf seine Arbeitsmoral.

Menschen greifen nicht mehr in Prozesse ein

"Ich bin ein Typ der alten Schule und gebe in jedem Job 110 Prozent", sagt Normandin. "Das hat mich wirklich verärgert, weil es um meinen Ruf geht. Die sagen, ich hätte den Job nicht gemacht, obwohl ich verdammt gut weiss, dass ich ihn gemacht habe."

Normandins Schicksal steht für eine neue Dimension in dem sich immer weiter entfaltenden Verhältnis von Mensch und Maschine am Arbeitsplatz. Ging es über Jahrzehnte darum, dass Roboter Arbeiter ersetzen, sind sie bei Amazon oft schon der Chef. Millionen Menschen werden von ihnen eingestellt, bewertet und entlassen - und kaum ein Mensch greift in diese Prozesse ein.

Maschinen in der Personalverwaltung

Amazon wurde auch deshalb zum weltweit grössten Onlinehändler, weil Teile seiner Operationen an Algorithmen ausgelagert werden - Lösungsvorschriften mit denen Computer Probleme angehen. Mit Algorithmen werden zum Beispiel auch die Millionen von Drittanbietern auf Amazons Marktplatz verwaltet, was auch dort zu Beschwerden geführt hat - etwa wenn Verkäufer fälschlich der Produktpiraterie oder überhöhter Preise beschuldigt wurden.

Zunehmend überlässt das Unternehmen den Maschinen nun auch die Personalverwaltung. Software überwacht nicht nur die Lagerarbeiter, sondern Vertragsfahrer, unabhängige Zustellunternehmen und auch die eigenen Büroangestellte. Laut Insider hält Vorstandschef Jeff Bezos Maschinen für die schnelleren und genaueren Entscheider als Menschen. Das senke die Kosten und verschaffe Amazon einen Wettbewerbsvorteil.

Amazon startete seinen Lieferservice Flex 2015. Eine Armee von Vertragsfahrern wurde schnell zu einem wichtigen Teil seiner Liefermaschinerie. Die Flex-Fahrer bekommen jene Pakete, die nicht auf einen Amazon-eigenen Lieferwagen geladen wurden und stellen auch viele Lieferungen von Amazons Lebensmittelkette Whole Foods zu. Sie verdienen etwa 25 Dollar pro Stunde - hochwillkommen bei vielen, die sonst als Uber- und Lyft-Fahrer unterwegs sind, aber während der Pandemie wenig zu tun hatten.

Bewegungen werden überwacht

Algorithmen überwachen jede ihrer Bewegungen: Sind sie bei der Lieferstation angekommen? Haben sie die Route im vorgeschriebenen Zeitfenster geschafft? Haben sie ein Paket einfach auf die Veranda gestellt, anstatt es wie gewünscht hinter einem Blumenkübel zu verstecken? Die Algorithmen scannen eine Vielzahl von Daten nach Leistungsmustern und entscheiden, welche Fahrer mehr Routen bekommen und welche ausgemustert werden. Menschliches Feedback ist selten. Fahrer erhalten automatisierte Bewertungen in vier Stufen: Fantastisch, grossartig, ordentlich oder gefährdet.

Bloomberg befragte 15 Flex-Fahrer, darunter vier, die sagen, sie seien zu Unrecht gekündigt worden, sowie ehemalige Amazon-Manager, die sagen, dass das weitgehend automatisierte System nicht ausreichend auf die täglichen Herausforderungen der Fahrer abgestimmt ist.

Amazon kalkuliert Fehler mit ein

Innerhalb von Amazon gilt Flex als grosser Erfolg. Die Vorteile des Services überwögen Kollateralschäden wie schlechte Presse bei weitem, sagt ein ehemaliger Ingenieur, der das System mitentwickelt hat. "Den Managern war klar, dass manches in die Hose gehen würde", sagte diese Person. "Die einzige Frage war, wie viel Mist wir haben wollten."

In einer Stellungnahme nannte Amazon-Sprecherin Kate Kudrna die Behauptungen der Fahrer über schlechte Behandlung und unfaire Kündigung anekdotenhaft und nicht repräsentativ für die Erfahrungen der überwiegenden Mehrheit der Flex-Fahrer.

Einer von ihnen, Ryan Cope, wurde 2019 vom System deaktiviert. Einspruch erhob er keinen - er hatte bereits für sich entschieden, dass er die Anforderungen der Algorithmen nicht erfüllen konnte. Er fuhr kilometerweit über kurvenreiche Feldwege ausserhalb von Denver durch den Schnee und schüttelte oft ungläubig den Kopf, wenn Amazon erwartete, dass ein Kunde sein Paket innerhalb von zwei Stunden erhalten würde.

"Wenn es ein Problem gibt, gibt es null Unterstützung", sagt der 29-Jährige. "Du gegen die Maschine - also versuchst du’s nicht einmal."

Kein Algorithmus ist perfekt

Der Einsatz von Algorithmen nimmt auch anderswo zu. Maschinen genehmigen Kreditanträge und entscheiden sogar, ob jemand eine Bewährung verdient oder hinter Gittern bleibt. Informatiker fordern Regeln, die Unternehmen zwingen, die Arbeitsweise ihrer Algorithmen offenzulegen. Getan hat sich bislang wenig.

Probleme, die Fahrer aufhalten, sind mannigfaltig: vor der Zustellstation Schlange stehen, ein Nagel im Reifen.

Die Informatiker, die Flex entworfen haben, haben daran gearbeitet, das System fair zu machen und typische Probleme wie Staus und Hindernisse beim Zugang zu Wohnungen zu berücksichtigen, sagen ehemalige Mitarbeiter. Aber kein Algorithmus ist perfekt und bei einem Unternehmen von Amazons Grösse kann selbst eine kleine Fehlerquote eine grosse Zahl von Fahrern schmerzen. Die Flex-Fahrer würden etwa 95 Prozent aller Pakete pünktlich und ohne Probleme ausliefern. Dem Rest spürt der Computer nach.

Wieder mit Menschen zu tun haben

Für Normandin funktionierte Flex jahrelang gut. Er fuhr früher nachts Pizza und morgens Zeitungen aus, er kannte alle Abkürzungen. Normandin hatte hervorragende Bewertungen und wurde gefragt, ob er andere Fahrer ausbilden möchte.

Ab letzten August begannen die Probleme. Lieferungen vor dem Morgengrauen in Apartmentkomplexe, deren Tore noch verschlossen waren. Ein defektes Schliessfach, das sich nicht öffnen liess. Sein Zugang zur App wurde deaktiviert. Sein Einspruch blieb in einer Endlosschleife hängen, die jeder Kundendienst-Nutzer kennt - nur dass er keinen Ersatz für ein beschädigtes Produkt wollte, sondern um seinen Job kämpfte. Vergeblich, genauso wie sein Schreiben direkt an Jeff Bezos.

Inzwischen versucht er sein Glück mit einer Reparaturwerkstatt. Er wollte wieder mit Menschen zu tun haben. Über die Entwickler der Algorithmen, die ihn überwacht, bewertet und schliesslich gefeuert haben, sagt Normandin: "Es kommt einem vor, als hätten sie keine Ahnung, wie die wirkliche Welt funktioniert."

(Bloomberg)