Anfang Woche kam es in China zu ungewöhlichen Szenen. Rund 100 Leute stürmten den Firmensitz des Immobilienentwicklers Evergrande im südchinesischen Shenzhen. Die Anleger forderten ihr Geld zurück. Es kam zu Tumulten.

Überraschend ist das nicht, wenn man weiss, dass es im gewöhnlich gelassenen chinesischen Alltag zu explosionsartigen Ausbrüchen kommen kann, wenn ein gewisses Mass überschritten ist. Aufsehenerregend ist höchstens, dass es im Repressions- und Überwachungsstaat China überhaupt zu solchen Protesten kommt. Es zeigt gleichsam den Ernst der Lage. 

Denn Evergrande, Chinas zweitgrösster Immobilienentwickler, steht am Abgrund. Aktionäre und Kreditgeber werden wahrscheinlich viel Geld verlieren. Die jüngste Hiobsbotschaft kam am Mittwoch: Die Firma kann die Schuldzinsen, die am nächsten Montag fällig werden, nicht bedienen. Banken wurden bereits zuvor vor möglichen Zahlungsausfällen gewarnt. Bereits spricht man von Chinas "Immobilienschock".

Man mag nun einwenden, dass dies aus europäischer Sicht weit weg ist. Doch Evergrande ist ein Gigant. Es gibt kaum eine chinesische Stadt, in welcher der Baukonzern nicht massiv mit Immobilien-Entwicklungen beteiligt ist und war. Fast 4 Millionen Beschäftigte ziehen jährlich im Auftrag von Evergrande Bauten hoch.

Evergrande wälzt einen Schuldenberg von über 300 Milliarden Dollar vor sich her, und das ist der Kern des Problems. 90 Milliarden davon entfallen auf Banken. Damit ist Evergrande eines der am höchsten verschuldeten Unternehmen weltweit. Ein Kollaps könnte Schockwellen für das chinesische Bankensystem und andere Wirtschaftsbereiche über China hinaus haben. Es wäre der Dominoeffekt, wie ihn die Finanzwelt und die Politik fürchten.

Wie kam es dazu? Der Immobiliensektor Chinas ist bloss ein Beispiel einer Entwicklung, welche die Welt seit rund einem Jahr mit Erstaunen zur Kenntnis nimmt. Die kommunistische Regierung erlässt im Akkord und mit stoischer Nüchternheit immer neue Regeln für Chinas Unternehmenslandschaft. Die Kampagne könnte unter dem Motto "Back to Socialist Roots" laufen. Die Massnahmen schlagen im Immobilienbereich besonders heftig ein. Auflagen wie beschränkte Kreditaufnahme oder ein Verbot von Grundstückskäufen sorgten im heissgelaufenen Häusermarkt bereits zu über 220 Pleiten von Immobilienfirmen seit Jahresbeginn.

Natürlich haben die Märkte längst reagiert. Der Aktienkurs von Evergrande ist seit Jahresbeginn fast 85 Prozent zusammengesackt. Und die Angst vor einem Kollaps Evergrandes erfasste letzte Woche auch die Börsen ausserhalb Chinas.

Doch sind die Ängste vor Schockwellen berechtigt? Ist Evergrande so etwas wie ein Schwarzer Schwan für die Finanzmärkte?

Nein. Finanzstabilität hat für Peking oberste Priorität. Schon vor diesem Hintergrund ist eine Evergrande-Pleite unwahrscheinlich. Die Regierung hat zwar in der Vergangenheit auch schon Grosskonzerne in Konkurs geschickt, etwa das Konglomerat HNA – ohne dramatischen Folgen. Die Evergrande-Kreditausfälle wären laut Ratingagenturen für die grösseren chinesischen Banken überdies verkraftbar. Und vielleicht das Wichtigste: Nichts fürchten Chinas Machthaber mehr als eine Gefährdung der sozialen Stabilität im Land. Die Evergrande-Proteste sind den Machthabern in Peking eine Warnung. 

Das Ringen um eine Lösung des Evergrande-Problems, die irgendwie herbeigeführt wird, wird wohl kurz- und mittelfristig auch die Märkte ausserhalb Chinas belasten. Investoren sollten lieber die langfristige Perspektive im Auge behalten: China 2021 und danach ist nicht mehr China 2020 und davor. Die Repression der Regierung wird nicht spurlos am Wirtschaftswachstum vorbeigehen.