Der britische Premierminister Boris Johnson klagte am Montag vor Journalisten, die EU habe bisher nicht im Detail dargelegt, woran es hakt. "Es ist Zeit, dass wir uns zusammensetzen und das ausdiskutieren", so der Premier. Die britische Regierung habe ein "grosses Zugeständnis" gemacht.

London hatte vorige Woche neue Vorschläge für ein geändertes EU-Austrittsabkommen gemacht, die aber in der EU auf Widerstand treffen. Es geht um die Frage, wie die Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland auch nach dem Brexit offen bleiben kann. Im 2018 ausgehandelten Brexit-Vertrag gibt es die Übergangslösung mit einer Zollunion, den sogenannten Backstop. Den lehnt Johnson aber ab.

Aus britischen Regierungskreisen hiess es am Montag, London habe der EU ein grosses Angebot vorgelegt. Jetzt müsse auch die EU-Kommission Willen zum Kompromiss zeigen. "Wenn nicht, wird Grossbritannien ohne Vertrag gehen", hiess es. Eine Sprecherin der EU-Kommission betonte indes, Johnsons Vorschläge erfüllten nicht alle Ziele des Backstops und es sei an Grossbritannien, eine gangbare Lösung vorzulegen. Man wolle aber mit London zusammenarbeiten. Am Montagmorgen setzten sich Experten beider Seiten wieder an einen Tisch.

Der komplizierte Streit dreht sich um zwei Kernpunkte: Für Nordirland wurde nach jahrzehntelangen Konflikten 1998 eine Friedensregelung getroffen, das Karfreitagsabkommen, das ein Zusammenwachsen mit der Republik Irland im Süden zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum vorsieht. Der Brexit droht, die Grenze wieder spürbar zu machen. In Nord und Süd würden unterschiedliche Regeln, Produktstandards, Zölle und Steuern gelten.

Die EU will keine Grenze mit Kontrollen, sieht aber ihren Binnenmarkt in Gefahr, wenn unkontrolliert minderwertige Billigwaren über die "Hintertür" der irischen Grenze kommen könnten. Um das Dilemma zu umgehen, sieht der Backstop vor, dass ganz Grossbritannien in einer Zollunion mit der EU bleibt, bis eine bessere Lösung gefunden ist. Johnson will das nicht, weil Grossbritannien dann keine eigenen Freihandelsabkommen schliessen könnte.

Johnsons Ersatzlösung: In Nordirland sollen zwar vorerst weiter EU-Regeln für Lebensmittel und andere Waren gelten, so dass keine Warenkontrollen nötig sind. Doch soll Nordirland mit Grossbritannien aus der Zollunion ausscheiden. Die dann nötigen Zollkontrollen sollen nach Johnsons Ideen nicht an der Grenze, sondern dezentral erfolgen. Die EU hält das nicht für machbar. Zudem lehnt sie ab, dass die nordirische Volksvertretung die Anbindung an EU-Regeln kippen könnte, weil das praktisch einem Vetorecht für die protestantische DUP über die Abmachung gleichkommen würde.

Der Brexit ist nach zwei Verschiebungen für den 31. Oktober angesagt. Vorher könnte beim EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober eine Einigung gebilligt werden. Gelingt das nicht, stünde möglicherweise eine weitere Verschiebung des Brexits an. Die britische Regierung lehnt weitere Verzögerungen ab. Stattdessen droht sie mit einem Ausscheiden ohne Vertrag.

Das steht im Widerspruch zu einem kürzlich vom britischen Parlament verabschiedeten Gesetz, das den Premierminister zu einem Antrag auf Verlängerung verpflichtet, sollte bis zum 19. Oktober kein Abkommen ratifiziert sein. Johnson beteuert, das Gesetz achten zu wollen und droht dennoch mit einem No-Deal-Brexit. Wie das gehen soll, ist unklar.

Einem Antrag, dem Premierminister Zwangsmassnahmen für den Fall anzudrohen, dass er sich nicht an das Gesetz hält, wollte das oberste schottische Gericht am Montag nicht stattgeben. Der Fall könnte bereits an diesem Dienstag in der schottischen Stadt Edinburgh in Berufung gehen.

In einem Telefonat sagte Johnson am Sonntagabend dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die EU solle sich nicht der Illusion hingeben, dass Grossbritannien über den 31. Oktober hinaus bleibe. Man müsse jetzt vorankommen. Macron sagte seinerseits laut Medienberichten, man wolle Ende der Woche beurteilen, "ob ein Deal möglich ist, der die Grundsätze der Europäischen Union anerkennt".

Johnson ist nicht nur wegen des Konflikts über das Gesetz gegen einen ungeregelten EU-Austritt innenpolitisch unter Druck. Dem britischen Premier wird auch vorgeworfen, in seiner Zeit als Londoner Bürgermeister das frühere Model Jennifer Arcuri begünstigt zu haben. Diese sagte am Montag dem Sender ITV auf Fragen zu einer möglichen Affäre mit Johnson: "Es geht niemanden etwas an, was für ein Privatleben wir hatten." Johnson habe sie nie begünstigt. "Ich habe ihn auch nie um einen Gefallen gebeten."

Ein Treffen führender britischer Oppositionspolitiker ging am Montag im Streit zu Ende. Anlass dafür waren Berichten zufolge Meinungsverschiedenheiten darüber, wer einer Interimsregierung vorstehen soll, wenn Johnson per Misstrauensvotum gestürzt werden sollte. Die grösste Oppositionspartei Labour besteht demnach darauf, dass nur ihr Parteichef, Jeremy Corbyn, dafür infrage kommt. Die Liberaldemokraten lehnen das kategorisch ab./vsr/DP/fba

(AWP)