cash: Seitdem die Schweizerische Nationalbank die Anbindung des Frankens zum Euro aufgegeben hat, sind fast acht Monate vergangen. Wie hat die Schweizer Wirtschaft diesen Schock verkraftet?

Aymo Brunetti: Die Schweizer Wirtschaft hat sich deutlich abgekühlt, was zu erwarten war. Der Effekt war in weiten Teilen der Wirtschaft zwar stark, aber nicht so stark wie zunächst befürchtet. Die Unternehmen haben den Schock noch nicht überwunden, aber grundsätzlich haben sie sich relativ gut auf die jetzige Situation eingestellt. Aus den neuesten BIP-Quartalszahlen kann man jedoch schliessen, dass die Gewinnmarge vieler Schweizer Unternehmen kleiner wurde, da die Preise auf breiter Ebene reduziert wurden.

Haben wir das Schlimmste überstanden oder kommt der grosse Wachstumseinbruch erst noch?

Zurzeit leben Unternehmen teils noch von Aufträgen, die vor der Aufhebung des Mindestkurses abgeschlossen wurden. Das fällt jetzt langsam weg und unter dem neuen Wechselkurs werden hier Einbussen kommen. Von dem her erwarte ich durchaus noch einige schwierige Quartale in der Schweiz. Von einer schweren Rezession gehe ich jedoch nicht aus. Aber bis wir zurück zum normalen Wachstum finden, dürfte es noch eine Weile dauern.

Der starke Franken birgt ja die Gefahr, dass eigentlich gesunde Unternehmen nicht mehr profitabel produzieren können. Kommt es deshalb zu einem unerwünschten Strukturwandel in der Schweiz mit negativen Folgen?

Wenn man längerfristig eine zu starke Währung zulässt, kommt es tatsächlich zu einem Strukturwandel, der zu weit gehen könnte. Die Situation ist zurzeit aber sicherlich weniger dramatisch als nach Auflösung des Mindestkurses im Januar, wo zeitweise Euro-Franken-Parität herrschte. Der Franken ist zwar stark überbewertet, aber nicht mehr ganz so extrem wie damals.

Welche Branchen wären vom Strukturwandel betroffen?

Stark betroffen wäre der Tourismus. Und auch andere Unternehmen, die in den europäischen Wirtschaftsraum exportieren und gleichzeitig kaum Möglichkeiten haben, dies über Importe zu kompensieren.

Muss der Staat intervenieren, um dieser Fehlentwicklung entgegenzuhalten?

Nein, denn wirklich eine Überbewertung verhindern kann nur die Geldpolitik. Staatliche Interventionen, wie zum Beispiel die Subventionierung gewisser Branchen, wären extrem ineffizient. Aber was der Staat tun kann, ist darauf achten, dass die allgemeinen Rahmenbedingungen stimmen. Ich denke da in erster Linie an das steuerliche Umfeld und die Europapolitik.

Sie haben sich in ihrer Expertengruppe intensiv mit der Too-big-to-fail-Problematik auseinandergesetzt und dem Bundesrat konkrete Massnahmen zur Förderung der Finanzmarktstabilität unterbreitet. Sind Grossbanken sicherer als noch 2008?

Mit Sicherheit. 2008 war die Situation ausserordentlich heikel. Seither gab es eine erste Welle von Too-Big-to-fail-Massnahmen und die Banken selber unternahmen grosse Schritte, um sicherer zu werden.

Und ist das ausreichend?

Aus ökonomischer Sicht wäre es dann ausreichend, wenn Banken nicht mehr vom Staat gerettet werden müssten, wenn etwas schief laufen würde. So weit sind wir noch nicht, aber die Richtung stimmt mit Sicherheit. Unsere Expertengruppe hat eine ganze Reihe von zusätzlichen Massnahmen zur Systemsicherheit empfohlen. Eine Mischung aus Kapitalanforderungen an die Banken und einer Organisation, in der Art, dass Grossbanken aufgelöst werden können ohne die Systemstabilität zu gefährden.

In ihrem Bericht erwähnen Sie auch die Finanztransaktionssteuer, welche in Frankreich und Italien bereits Realität ist. Weitere elf EU-Mitgliedstaaten planen die Einführung einer gemeinsamen Finanztransaktionssteuer. Ist es eine Frage der Zeit, bis die Schweiz hier auch nachziehen muss?

Internationalen Druck in diese Richtung wird es kaum geben. Es geht deshalb vor allem darum, eine Doppelbesteuerung zu vermeiden, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit nicht zu mindern. Wichtig ist, dass diese Steuern nicht eine extraterritoriale Wirkung entfalten, sprich, dass es nicht zu einer Doppelbesteuerung führt, wenn die Schweiz eine Umsatzbesteuerung hat und das gleiche Produkt zusätzlich in einem anderen Land mit einer Finanztransaktionssteuer besteuert wird.

Welches Vorgehen empfehlen sie?

Da sehen wir verschiedene Stossrichtungen. Zunächst, dass sich die Schweiz international dafür einsetzt, dass die Steuer nicht extraterritorial wirkt. Tut sie das trotzdem, sollte die Schweiz versuchen, dies über Doppelbesteuerungsabkommen mit einzelnen Partnerstaaten zu mindern. Und wenn das nicht funktioniert, wäre es vorstellbar, dass die Schweiz durch autonome Massnahmen die Verzerrung beseitigt, etwa durch die Reduktion der Umsatzsteuern.

Derzeit werden in der Schweiz Unterschriften für die Vollgeld-Initiative gesammelt, welche das Finanzsystem total umkrempeln will und den Geschäftsbanken die Geldschöpfungsmacht entziehen möchte. Wie stehen Sie zu diesem Vorschlag?

Die meisten Ökonomen werden sagen, dass ein Vollgeld-System grundsätzlich funktionieren kann. Aber 'how to get there' ist das grosse Problem. Wenn man das Vollgeldsystem auf einer grünen Wiese konstruieren könnte, wäre es durchaus eine denkbare Variante. Das Problem ist aber, dass wir heute ein ganz anderes System haben. Eine radikale Umstellung wäre notwendig, in einem Umfeld, wo alle anderen Länder das jetzige System beibehalten würden. Für die Wirtschaft und unseren Finanzplatz im Speziellen wäre dies eine unglaublich schwierige Umstellung. Der Nutzen durch das neue System ist vernachlässigbar verglichen mit den extremen Risiken, die durch den totalen Umbau entstehen würden.

Aber ein Vollgeld-System würde die Finanzstabilität erhöhen?

Beim Übergang zum neuen System wäre die Finanzstabilität stark gefährdet. Ausserdem gibt es viel bessere Instrumente, die Finanzstabilität  zu sichern. Und zwar sind dies eben Massnahmen zur Reduktion der Too-big-to-fail-Problematik, wie sie von unserer Expertengruppe dem Bundesrat vorgeschlagen wurden. Dies reduziert das Problem mit viel einfacheren Mitteln als die radikale Vollgeldreform.

In einem Interview mit der Weltwoche hat der emeritierte Ökonomieprofessor Silvio Borner, bei dem Sie doktoriert haben, Sie als den Ökonomen der jüngeren Generation genannt, der am ehesten so denkt wie er. Welche Ökonomen haben Sie denn in ihrer Denkweise am stärksten beeinflusst?

Da gibt es einige. Ich habe in Basel studiert, dort haben mich Silvio Borner, aber auch etwa Peter Bernholz und Martin Hellwig beeinflusst. International gesehen hat mich zum Beispiel Paul Romer stark geprägt, welcher die Art und Weise, wie Ökonomen über Wachstum denken, veränderte.

Aymo Brunetti ist Professor für Wirtschaftspolitik und Regionalökonomie an der Universität Bern. Er ist ebenfalls geschäftsführender Direktor des Center for Regional Economic Development (CRED) an der Universität Bern. Zudem leitet er den vom Bundesrat eingesetzten Beirat zur Zukunft des Finanzplatzes. Brunetti leitete ausserdem von 2003 bis 2012 die Direktion für Wirtschaftspolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO).