cash.ch: Herr Brunetti, was macht ihnen in der jetzigen Situation am meisten Sorgen?

Aymo Brunetti: Das grösste Risiko ist, dass wir eine grosse Konkurswelle von Unternehmen erleben könnten, die eigentlich gesund sind, die aber unverschuldet durch einen aussergewöhnlichen Schock getroffen werden. Die Kosten bei den Unternehmen bestehen weiter, die Einnahmen fallen jedoch weg. Das ist das Aussergewöhnliche. Dies hat man in dieser Art in der Finanzkrise und Rezessionen bisher nicht gehabt. Die Liquiditätslage von vielen Unternehmen ist betroffen. Es ist eine vollkommen ungewöhnliche Situation. Man kann daher auch nur beschränkt etwas aus der Vergangenheit lernen.

Welcher Sektoren sind in der Schweiz am gefährdetsten?

Offensichtlich ist dies der Tourismus im weiteren Sinne. Reisen, Veranstaltungen, Fluggesellschaften sind natürlich unmittelbar sehr stark betroffen. Wenn es länger geht, gibt es andere Bereiche der Wirtschaft, wo die Nachfrage auch einbricht. Zum Beispiel Investitionsgüter, die in der Schweiz produziert werden. Momentan wird kaum investiert. Wenn dies lange anhält, gibt es ein substantielles gesamtwirtschaftliches Problem.

Welche Rolle nehmen die Zentralbanken in dieser Situation ein?

Aus meiner Sicht sind die Zentralbanken eindeutig weniger auf dem Fahrersitz. Was die Zentralbanken jedoch unbedingt machen müssen: Garantieren, dass die Banken genügend Liquidität haben. Damit die Banken nicht gezwungen sind, bestehende Kredite aufzulösen oder nicht zu erneuern, falls die Banken selbst Liquiditätsprobleme hätten. Das ist eine Aufgabe der Zentralbanken. Zinssenkungen hingegen sind meines Erachtens im Moment eher Beigemüse zur Beruhigung. Es fragt sich jedoch, ob das Signal hilfreich ist, wenn aus allen Rohren geschossen wird. Es trägt unmittelbar wenig zur Lösung des Problems bei.

Wie wird die Schweizerische Nationalbank diese Woche reagieren?

Neben der Liquiditätshilfe dürfte die SNB schauen, dass sich der Wechselkurs nicht stark verändert. Es hilft, dass die EZB die Zinsen nicht gesenkt hat. Meines Erachtens hat dies die EZB zu Recht nicht getan. Die SNB ist daher hier nicht so sehr unter Zugzwang.

Die Fiskalpolitik ist ganz offensichtlich in der Pflicht.

Wenn es darum geht, einzelne Unternehmen der Realwirtschaft vor unverschuldeten Liquiditätsproblemen zu schützen, steht die staatliche Finanzpolitik im weitesten Sinne im Vordergrund. Jedoch nicht im Sinne eines Konjunkturprogrammes. Es muss denjenigen Unternehmen geholfen werden, welche unverschuldet in diese Situation geraten sind. Ein geeignetes Mittel ist sicher die Kurzarbeit, aber auch Stundung der Mehrwertsteuer oder Bürgschaften für Kredite sind denkbare Ansätze

Machen Sie sich keine Sorgen um die Banken und den Finanzplatz?

Dies wäre absolut untertrieben. Es ist aber nicht so wie in der Finanzkrise, wo die Banken mit extrem tiefen Kapitalquoten in die Krise gegangen sind und kaum genügend Liquidität gehabt haben. Heute ist es eine komplett andere Situation. Heute verfügen die Banken über viel bessere Kapitalquoten und ausgeglichenere Geschäftstätigkeiten. Das Problem entsteht dieses Mal nicht im Finanzsektor, sondern in der Realwirtschaft. Es kann aber zu einer Finanzkrise werden, wenn man massenhaft Kreditausfälle hat und den Banken nicht genügend Liquidität zur Verfügung stellt.

In welcher Ausgangslage befindet sich die Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern?

Es handelt sich hierbei um ein globales Problem. Die Schweiz ist aber für eine geeignete wirtschaftspolitische Reaktion in einer besseren Ausgangslage, da die Staatsfinanzen in einem viel besseren Zustand sind als in vielen anderen Ländern. Die Gesamteffekte sind jedoch ein weltweites Problem und werden auch die Schweiz treffen.

Die verdrängte Problematik der Staatsverschuldung wird dadurch für viele Länder wieder aktuell?

Die Schweiz hat dieses Problem in viel kleinerem Ausmass, wenn man dies mit einem Land wie Italien vergleicht, das von der Krise besonders stark getroffen ist. Trotzdem: Im Moment brennt es. In dieser Situation sollte man sich auch in stark verschuldeten nicht primär Gedanken machen um langfristige Staatsschuldenquoten. Jetzt muss man Geld in die Hände nehmen, um das Problem schnell in den Griff zu kriegen. Aber die mittelfristigen Auswirkungen sind sehr problematisch für stark verschuldete Länder.

Momentan geht es nur noch darum, eine wirkliche Krise zu verhindern?

Genau. Ein möglicher Stillstand soll verhindert werden. Man darf sich jedoch auch nicht mitreissen lassen. Es ist immer noch denkbar, dass sich die Lage in wenigen Monaten stabilisieren lässt und es eher eine klassische V-Rezession wird. Es geht stark hinunter, beruhigt sich und geht wieder hinauf. Dies muss eigentlich das Ziel sein: Eine möglichst rasche Eindämmung. Je schneller die Eindämmung gelingt, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit für eine langanhaltende Rezession und Depression. Wie das geschehen soll, ist jedoch eine gesundheitspolitische Frage. Hier sind die Ökonomen nicht kompetent.

Was halten Sie von der These, dass in einer späteren Phase die Inflation zurückkehren und zu einem ersten Problem werden könnte?

Im Moment ist es eher ein deflatorischer Schock. Wenn jedoch lange Lieferstopps eintreffen und die Güter knapp werden, dann kann es auch Preissteigerungen geben. Wir Ökonomen sagen jedoch schon lange, dass das Inflationsrisiko nicht tot ist. Wir müssen aufpassen, dass wir längerfristig nicht in ein solches Szenario geraten; im Moment steht das Inflationsrisiko aber nicht im Vordergrund.

Was raten Sie den Leuten? Ganz generell?

Wenn Sie mich fragen: Macht alles, was die Immunologen und Gesundheitsspezialisten sagen. Nehmt dies ernst. Der entscheidende Punkt ist, dass die Ansteckungsrate so rasch wie möglich zurückgeht. Sobald diese zurückgeht, dreht auch die Wirtschaftslage und Wirtschaftsentwicklung.

Es braucht einen gemeinschaftlichen Effort?

Ja, und die Einsicht, dass dies nicht jeder für sich macht. Sondern dafür, dass die Ausbreitung nicht weiter geht. Dies bestimmt die Länge der gesamten Krise.

Aymo Brunetti ist seit 2012 Professor am Departement Volkswirtschaftslehre der Universität Bern. Zuvor war er neun Jahre Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO).

ManuelBoeck
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