cash.ch: Herr Hartmann, das Drama um den taumelnden chinesischen Immobilienkonzern Evergrande beschäftigt die weltweiten Märkte stark, wie beim Ausverkauf am Montag deutlich wurde. Ist dies ein Sturm im Wasserglas?

Daniel Hartmann: Ganz harmlos ist die Geschichte sicherlich nicht, aber es ist auch kein Lehman-Moment. Dazu fehlt die internationale Dimension. Die Subprime-Kredite waren ja über die ganze Welt verstreut. Evergrande hat hingegen nur wenige Anleihen im Ausland ausstehend. Zudem dürfte der chinesische Bankensektor einen Konkurs von Evergrande stemmen. Weniger als ein Prozent der chinesischen Bankkredite wären betroffen. Die grösste Gefahr ist, dass andere Immobilienunternehmen in den Abgrund gezogen werden. Die chinesische Regierung hat aber kein Interesse daran, dass der gesamte Immobiliensektor ins Wanken gerät.

Die weltweiten Aktienmärkte haben also überreagiert...

Wenn die chinesische Regierung rechtzeitig eingreift und das Ganze ein kontrollierter Prozess bleibt, dann ist es kein Gamechanger für die Aktienmärkte. China ist dieses Jahr ohnehin nicht die Konjunkturlokomotive der Weltwirtschaft, sondern die USA. Die USA und die Eurozone haben aus sich heraus dieses Jahr hohe Wachstumsraten. Daher ist die Unterstützung aus China gar nicht so wichtig.

China beschäftigt auch anderwärtig wiederholt die weltweiten Märkte. China will nachhaltiges Wachstum und soziale Gerechtigkeit fördern. Dafür setzt die Politik auf strengere Regulierung von Unternehmen. Was bedeutet dies für Anlegerinnen und Anleger?

Auf der einen Seite besteht das Risiko, dass der kommunistische Staat jederzeit eingreifen könnte. Dies macht insbesondere die chinesischen Technologieunternehmen weniger attraktiv, die in ihrer Macht beschnitten werden sollen. Die Gewinnfantasie, die man von Apple, Amazon oder Google kennt, kann man bei den chinesischen Technologiewerten daher nicht mehr haben. Auf der anderen Seite sind die Wachstumsperspektiven für das ganze Land immer noch überproportional hoch. Wer sein Kapital international streuen will, wird um China nicht herumkommen. Das Land erbringt knapp 20 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung.

Die US-Notenbank Fed rechnet im nächsten Jahr mit einer Inflationsrate von 2,2 Prozent. Sie bleibt daher ihrer Aussage treu, dass die Inflation nur vorübergehend sei. Sind Sie mit dieser Einschätzung einverstanden?

Nein, überhaupt nicht. Es gibt immer mehr Anzeichen für einen nachhaltigen Inflationsschub. Und selbst US-Notenbankchef Powell musste am Mittwoch einräumen, dass die Inflationsrisiken zugenommen haben. Immerhin hat die Fed ihre Inflationsprognose ein bisschen nach oben korrigiert. Wir glauben jedoch, dass sich die Inflationsraten in den USA in den nächsten Jahren deutlich über 2 Prozent etablieren werden. Die Fed wird ihre Inflationsprognosen weiter anheben müssen.

Wie begründen Sie ihre Haltung?

Die Kapazitätsengpässe in der Wirtschaft lassen sich nicht so schnell beseitigen. Bei der Chipindustrie ist allen klar, dass dies länger dauert. Es zeigt sich immer deutlicher, dass in den vergangenen Jahren zu wenig investiert wurde. Im Energiesektor treten an allen Ecken und Enden Engpässe auf. Die steigenden Gaspreise hängen damit zusammen, dass man die Exploration von Gas zurückgefahren hat. Zudem bleibt das Wachstum – und damit die Nachfrage nach Industriegütern – auch im nächsten Jahr hoch. Darin spiegeln sich nicht zuletzt die Auswirkungen der beispiellosen fiskal- und geldpolitischen Expansion wider. 

Gibt es noch andere Inflationstreiber?

Langfristig wirkt auch der Klimawandel inflationstreibend. Zum einen, weil man höhere CO2-Preise verlangt und reguliert. Zum anderen, weil man den Klimawandel zum Anlass nimmt, eine Investitionsoffensive zu starten. Mithin dient der Klimawandel den Politikern als Rechtfertigung für noch höhere Fiskaldefizite. Zudem schrumpft die globale Erwerbsbevölkerung, was den weltweiten Fachkräftemangel verschärft. Schlussendlich findet auch ein Rückbau der Globalisierung statt. Die Unternehmen sehen, dass die internationalen Lieferketten viel zu krisenanfällig sind. Die Produktion wird zurück in die Heimat verlagert und das kostet mehr.

Der diesjährige Start des Rückfahrens der Anleihenkäufe durch die US-Notenbank Fed erscheint als eine ziemlich sichere Sache. Ist dieses Austrocknen der Liquiditätsschwemme an den Märkten bereits eingepreist?

Die Hürden für das Rückfahren der Anleihenkäufe in den USA sind niedrig. Laut Fed-Präsident Powell braucht es lediglich einen ordentlichen Arbeitsmarktbericht im September. Danach wird die Fed im November ankündigen, dass sie im Dezember die Anleihenkäufe reduzieren wird. Am meisten an den jüngsten Aussagen von Powell hat überrascht, dass der Prozess bereits Mitte 2022 abgeschlossen sein soll.

Dies ist eine weitreichende Weichenstellung…

Damit eröffnet sich die Perspektive, dass die Fed Ende 2022 die Leitzinsen anhebt. Die Mehrheit der Fed-Mitglieder befürwortet bis Ende 2024 sechs bis sieben Leitzinserhöhungen und sieht die Fed-Funds-Rate entsprechend bei 1,75 Prozent. Das ist an den Märkten nicht eingepreist und die Renditen dürften deswegen noch ansteigen.

Was bedeutet dies für die Aktienmärkte?

Bis Mitte 2022 sehen wir an den weltweiten Aktienmärkten noch ein gewisses Aufwärtspotenzial. Doch bei weitem nicht mehr das, was wir im ersten Halbjahr 2021 hatten. Ausgehend von den Höchstständen rechnen wir noch mit einem Plus von ca. 5 Prozent. Das Chance-Risiko-Verhältnis kippt aber allmählich, da sich die Konjunktur abschwächt, die Renditen steigen und die Inflation hoch bleibt. Und mit der geldpolitischen Trendwende ist die Liquiditätsschwemme auch nicht mehr so stark.

Wird dieser Cocktail insbesondere Wachstumswerte belasten?

Für Wachstumstitel wird es zunehmend kritisch. Vielleicht nicht gleich in den nächsten Monaten, aber mit Blick auf das Jahr 2022 und 2023. Denn die zukünftigen Gewinne müssen mit einer immer höheren Rendite abdiskontiert werden. Aktien von Unternehmen, die stark auf zukünftige Gewinne setzen und jetzt noch nicht gewinnstark sind, werden unter Druck geraten.

Wie können sich Anlegerinnen und Anleger für dieses Marktumfeld bestmöglich positionieren? 

Sollte sich die Pandemie abschwächen, könnte es kurzfristig nochmals einen Konjunkturschub geben. Davon dürften zyklische Aktien und Small Caps profitieren. Mittelfristig sollten sich Anleger für das Inflationsthema wappnen und auf Unternehmen mit Preissetzungsmacht und einem guten Geschäftsmodell setzen. Dazu zählen auch die Infrastrukturunternehmen, deren Erträge zum Teil an die Inflationsrate gebunden sind. Value-Titel werden in einem solchen Umfeld ebenso interessant. Der Schweizer Markt gehört wegen seiner Qualität sicherlich mit zu den Favoriten. 

Was können Sie noch empfehlen? 

Wir sehen auch Rohstoffe sehr positiv, vor allem Industriemetalle. Da zeichnet sich in den nächsten Jahren wegen grüner Investitionen in Infrastruktur, Windparks und Stromnetze nochmals ein Boom ab. Das sind alles kapitalintensive Investitionen, die eine hohe Rohstoffnachfrage nach sich ziehen werden. Und schlussendlich bieten sich inflationsgeschützte Staatsanleihen als Beimischung fürs Portfolio an.

Gold leidet unter steigenden Nominalzinsen, profitiert aber von einer hohen Inflation. Welche Entwicklung wird in den nächsten Monaten die Oberhand gewinnen?

Beim Goldpreis halten sich die Pro- und Kontra-Argumente die Waage. Die Inflationsgefahr spricht weiterhin für Gold. Doch es ist überfällig, dass die Nominalzinsen stärker ansteigen, was die Realzinsen auch nach oben bringen dürfte. Letzteres belastet den Goldpreis. Dennoch gehört Gold weiterhin ins Portfolio als Schutz gegen die zunehmenden Risiken.

Mit den zunehmenden Risiken sprechen Sie auch den US-Budgetstreit an…

Ich befürchte, dass dieser eskalieren wird. Die Fronten sind verhärtet. Es läuft darauf hinaus, dass die Schuldenobergrenze nicht rechtzeitig angehoben wird und es zu einem Shutdown kommt. Erst dies wird die beiden Parteien wohl zur Vernunft bringen. Obwohl dies kein Gamechanger ist, könnte dies die Märkte kurzfristig erschüttern. Schlussendlich wird man die Zahlungsunfähigkeit der USA aber nicht riskieren.

Wird die Refinanzierung der immer grösser werdenden Staatsschulden in Europa und den USA wegen der geldpolitischen Kehrtwende nicht zu einem grossen Problem?

Auf kurze Frist wegen des bestehenden Niedrigzinsumfelds sicherlich nicht. Deutschland und die Schweiz verdienen aktuell daran, wenn sie sich verschulden. Und selbst wenn die Renditen moderat ansteigen, bleibt das Niveau relativ niedrig. Es wird mittelfristig darauf ankommen, was mit der Inflation passiert. Ob die Notenbanken gezwungen sind, eine galoppierende Inflation zu stoppen und die Zinsen scharf anheben. Dann wird es gefährlich und wir kommen in eine ähnliche Situation wie Anfang der 1980er Jahre. Das Risiko für dieses Szenario liegt bei 50 Prozent.

Der US-Präsident Joe Biden will seine massiven Staatsausgaben mit höheren Steuern für Reiche und Unternehmen finanzieren. Inwiefern ist das US-Steuervorhaben ein Risiko für die Entwicklung der Aktienmärkte?

Dies gehört in die Gruppe der Faktoren, die mittelfristig eine Belastung für Aktien darstellen. Zu den steigenden Zinsen, dem steigenden Kostendruck kommen jetzt auch noch steigende Unternehmenssteuern hinzu. Dies ist typisch für Phasen, wo die Fiskalpolitik expansiv ist und den Staatsapparat ausbaut. Dies ist einer von vielen Faktoren, die dafür sprechen, die Aktienquote – auch beim privaten Vermögensaufbau – nicht zu stark auszubauen.

Kryptowährungen wie Bitcoin und Ether gewinnen auch dank steigender Kurse immer mehr an Popularität. Wie erklären Sie sich deren Aufstieg?

Die Kryptowährungen haben ihren Aufstieg den Notenbanken mit ihrer expansiven Geldpolitik zu verdanken. Bitcoin und Ether sind mithin ein Nebenprodukt der Geldschwemme. Letztendlich spiegelt sich darin die Kritik am Geldsystem, dass zuviel Geld gedruckt wird. Die Menge an Bitcoin ist hingegen von vornherein begrenzt und das ist der Vorteil gegenüber den Papiergeldwährungen. Aber die Kryptowährungen bringen keinen Zusatznutzen wie zum Beispiel Rohstoffe. Ebenso kann man keinen fundamentalen Wert ableiten, weil sie keinen Ertrag aufweisen. Zwar gilt dies auch für Gold. Doch beim Goldpreis weiss man aus der historischen Erfahrung, dass dieser von den Realzinsen abhängig ist und Schutz in Krisenzeiten bietet. Dies weiss man bei Bitcoin alles noch nicht. Als Zahlungsmittel ist Bitcoin wegen den grossen Schwankungen ungeeignet. Und nur weil etwas knapp ist, muss es nicht automatisch viel Wert haben. Doch solange die Notenbanken weitermachen, ihre Druckerpresse weiter anwerfen, werden sich die Anleger nach Alternativen umschauen. Neben Gold sind Kryptowährungen dann die zweite Alternative.