cash.ch: Wir vermeiden mit aller Kraft den Begriff Lockdown, aber wir sehen nun neue, Lockdown-ähnliche Einschränkungen. Mit welchem Konjunkturszenario rechnen Sie?  

Mathias Binswanger: Der Konjunktureinbruch in der Schweiz ist bisher erstaunlich gering ausgefallen. Am Beginn der Krise war erwartet worden, dass der Rückgang des Wirtschaftswachstums im ganzen Jahr 10 Prozent betrage. Mitte Jahr ging man von minus 6 Prozent aus. Vor kurzem hat die Prognose nur noch bei minus 3,6 Prozent gelegen. Das wird sich jetzt wieder etwas verschlechtern, aber die Krise ist sehr branchenspezifisch.

Die Schweiz steht von den Corona-Fallzahlen her derzeit schlechter da als die meisten europäischen Länder. Wirtschaftlich sind die Aussichten aber weniger negativ als anderswo – bleibt dies so?  

Im internationalen Vergleich steht die Schweiz weiter relativ gut da. Mit den neuen Massnahmen, die im Vergleich zum Ausland milder sind, wird die Schweiz wohl auch wirtschaftlich besser als andere Länder durch die nächsten Monate kommen.  

Wie beurteilen Sie die Massnahmen des Bundesrates gegen die Pandemie von dieser Woche aus wirtschaftlicher Sicht? 

Es ist dem Bundesrat ein Balanceakt gelungen. Die einen Leute haben mehr Angst vor dem Virus, die anderen mehr Angst vor den Massnahmen. Man muss beidem entgegenkommen. Dahingehend ist ein guter Kompromiss gefunden worden. Man schränkt das soziale Leben ein, schaut aber, dass die Wirtschaft weiterlaufen kann. Wenn man aber das Sozialleben zu stark einschränkt, schlägt dies natürlich auf die Wirtschaft zurück. So, wie es jetzt geregelt wurde, kann aber beispielsweise die Gastronomie noch einigermassen weiterexistieren. Der Bundesrat war sich wohl selbst uneinig, was dann zu einem Kompromiss geführt hat: Es ist aus meiner Sicht ein Vorteil, dass sich in der Schweiz nicht einfach eine Meinung durchsetzen kann.   

Wie werden Deutschland oder Frankreich wirtschaftlich noch getroffen werden, nachdem sie das öffentliche und wirtschaftliche Leben sehr viel strenger heruntergefahren haben? 

Man sieht, wenn man das zweite Quartal betrachtet: In der Schweiz brach während der ersten Welle der Konsum zum gleichen Vorjahresquartal um 12 Prozent ein, in Deutschland um 8 Prozent und in Frankreich gar um 15 Prozent. In den Nachbarländern wird es auch jetzt wieder zu erheblichen Einbrüchen kommen. In der Schweiz werden diese Einbrüche geringer ausfallen.  

Vor kurzem hielten Sie fest, dass der Konsum in der Schweiz weder nach oben, noch nach unten grosse Sprünge mache. Auch nicht in Krisen. 

Ja, dem ist so. Der Schweizer Konsum ist unglaublich stabil, wenn man seine langfristige Entwicklung betrachtet. In Krisen gab es beim Konsum keine grossen Sprünge nach unten, aber auch in Boom-Phasen ist er nicht enorm angestiegen. Der Konsum schwankt wenig und wächst langsam aber stetig. Aber: Die Bevölkerung muss konsumieren können. Wenn es so ist wie im zweiten Quartal dieses Jahres, wo vieles geschlossen war, dann bricht der Konsum auch in der Schweiz ein. Aber inzwischen hat sich der Konsum wieder ziemlich erholt.  

Was ist Ihrer Ansicht nach der Grund für diese stabile Konsumentwicklung?  

So etwas ist nur in einem reichen Land möglich: Die Leute haben relativ viel Geld und richten ihren Konsum deshalb nicht mehr so stark am jeweiligen Einkommen aus. Der stabile Konsum liegt auch an einem guten Sozialsystem. Auch die Hilfsprogramme, die wie jetzt im Notfall lanciert werden, tragen dazu bei. Kommt hinzu: Schweizerinnen und Schweizer sind tendenziell besonnene Menschen, die nicht zu kurzfristigen Übertreibungen neigen.  

Wird nicht eine Angst vor der Arbeitslosigkeit den Konsum dämpfen?  

Die Schweizer Wirtschaft bringt das Kunststück fertig, auf der einen Seite viel Wertschöpfung zu erzielen und auf der anderen Seite fast eine Vollbeschäftigung zu ermöglichen. Dadurch ist die Angst vor der Arbeitslosigkeit im Vergleich zu anderen Ländern sehr gering. Die Mehrheit befürchtet nicht einmal jetzt, den Arbeitsplatz zu verlieren. Im Ausland, wo diese Angst ausgeprägter ist, kann auch diese Angst den Konsum dämpfen.

Es kann sein, dass diese Massnahmen in der Schweiz nun ein halbes Jahr oder länger andauern werden. Bliebe diese Konsumstimmung bei langanhaltenden Beschränkungen stabil? 

Wenn es zu lange geht, natürlich nicht. Ich glaube aber nicht, dass dieser Zustand jetzt ein halbes Jahr dauern wird. Man wird nach einem oder zwei Monaten neu beurteilen.  

Frankreich oder Deutschland drohen aber, von einem Lockdown in den nächsten zu stolpern.  

Ja, und dies wird erhebliche wirtschaftliche Probleme verursachen. Diese Länder werden nicht einfach mit "einem blauen Auge" davonkommen. Lockdowns sind für die Wirtschaft Gift.

Nun wird aber die «sanftere» Version der Schweiz ja auch von Ökonomen kritisiert.  

Man muss einen zweiten Lockdown unter allen Umständen vermeiden. Das erste Halbjahr zeigte auch: Wer einen grösseren Lockdown hatte, hat nun stärkere wirtschaftliche Einbrüche. Dies auch deswegen, weil Unsicherheit entstand und durch weitere Lockdown-Drohungen geschürt wird. Unter diesen Umständen wartet man einfach ab, unternimmt nichts und investiert nicht.  

Hat die Schweizer Wirtschaft denn eine Perspektive? Wurden die Massnahmen dahingehend gut kommuniziert?  

Natürlich haben wir im Export auch die Unsicherheit, denn dort hängen wir von den Entscheidungen anderer Länder ab. Aber summarisch beurteilt ist in der Schweiz die längerfristige Perspektive besser, weil man eher die Gewissheit haben kann, dass nicht plötzlich drastische Massnahmen kommen.  

In Forschung und Lehre beschäftigen Sie sich auch mit den grossen Zusammenhängen. Kann man jetzt schon etwas darüber sagen, wie sich Wirtschaftsstrukturen wegen der Erfahrung des Jahres 2020 verändern werden?  

Unser Wirtschaftssystem wird sich nicht grundlegend ändern. Es ist auch nicht die erste Krise, die wir durchmachen. Das kapitalistische System, in dem wir leben, existiert seit etwa 200 Jahren und hat auch Kriege und andere, grössere Krisen überstanden. Diese Krise hat aber gezeigt, dass es beispielsweise geht, mehr von Zuhause aus zu arbeiten. Die Beschränkung aus der Industriewirtschaft, dass alle zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort arbeiten müssen, kann jetzt bei vielen Berufen endgültig überwunden werden. Dieses starre Modell war solange notwendig, wie es traditionelle Fabriken mit Fliessbändern gab. Zudem wird man in Zukunft wohl weniger geschäftlich reisen. Solche Entwicklungen können wir sogar als Gewinn ansehen. Aber das bedeutet nicht, dass wir nachher in einer anderen Wirtschaft leben werden.

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule der Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Die Schwerpunkte seiner Forschung sind die Makroökonomie, Finanzmarkttheorie, Umweltökonomie sowie die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen. In den "Ökonomen-Rankings" der "Neuen Zürcher Zeitung" hat Binswanger schon mehrfach unter den zehn Schweizer Wirtschaftsexperten mit dem grössten Einlfuss auf die Politik rangiert.