cash.ch: Die US-Inflation hat zu Jahresbeginn das höchste Niveau seit 40 Jahren erreicht. Dies befeuert Spekulationen und Ängste über drastische Zinsschritte der US-Notenbank Fed. Sind diese Befürchtungen gerechtfertigt?

Ja, die Befürchtungen sind gerechtfertigt. Diese geldpolitische Kehrtwende der Fed ist auch ein Resultat von politischem Druck, da die Midterm-Wahlen in den USA diesen November anfallen. 

Was haben die Midterm-Wahlen mit der US-Geldpolitik zu tun?

Die Inflation hat einen negativen Einfluss auf den Reallohn. Die nominalen Löhne nehmen zwar zu, aber die Inflation noch mehr. Der durchschnittliche US-Amerikaner musste miterleben, wie seine Kaufkraft deutlich reduziert wurde. Wir reden hier von einem Verlust von 2 bis 3 Prozent im Jahresvergleich. So werden keine Stimmen gewonnen.

Die Strategen von Goldman Sachs rechnen in diesem Jahr neu mit sieben statt fünf Zinserhöhungen durch die Fed. Ist das erwartete Tempo nicht zu hoch?

Idealerweise haben Notenbanker im Sinne, die geldpolitischen Zügel sanft anzuziehen. Politiker haben keinen Anreiz, auf eine verrückte Weise zu agieren. Sie wollen nicht, dass der Aktienmarkt 30 Prozent fällt oder die Kreditkosten um 10 Prozent steigen. 

Was hat der Chef der US-Notenbank, Jerome Powell, falsch gemacht, dass die Märkte jetzt so nervös sind?

Die Kommunikation lief aus dem Ruder. Bei der letzten Pressekonferenz gab sich Powell so falkenhaft wie seit 2018 nicht mehr. Er wurde gefragt, ob er von einer zu restriktiven Geldpolitik absieht. Er hat dies nicht bejaht. Anleihenhändler können dies nur so verstehen: Es gibt keine rote Linie.

Alfonso Peccatiello, Verfasser des wöchentlichen Newsletters "The Macro Compass".

Die Frage ist vielleicht vielmehr: Wie weit können die US-Notenbanker gehen, ohne das Wirtschaftswachstum abzuwürgen?

Viele Leute können lauter Bäume den Wald nicht mehr sehen, weil wir von tagtäglichen Informationen überschwemmt werden. Ein Anstieg von 50 Basispunkten im März liegt plötzlich im Bereich des Möglichen. Sogar ein Notfall-Meeting im Februar wurde anberaumt, um darüber zu entscheiden, ob die Zinsen zwischen den offiziellen Terminen angehoben werden.

Auf was sollten Anlegerinnen und Anleger stattdessen achten?

Die Realität ist, dass der Bondmarkt eine klare Botschaft aussendet. Dieser geht von sechs bis acht Zinsschritten in diesem Jahr aus und einigen wenigen im Jahr 2023. Doch bereits für 2024, nach einem Zinsanstieg von 0 auf 1,75 oder 2 Prozent, preist der Bondmarkt eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit ein, dass die Fed ihre Zinsen wieder reduziert.

Warum sollte die US-Notenbank bereits 2024 die Zinsen wieder reduzieren?

Die Finanzierungskosten in der Privatwirtschaft werden steigen. Ich spreche hier von Hypotheken und von Unternehmenskrediten. Wenn die Zinsen steigen, ist der Anreiz zur Kreditaufnahme viel geringer. Wenn Unternehmen weniger Geld ausleihen, werden es diese schwer haben, weiterhin ein so starkes Gewinnwachstum zu erzielen.

Gleichzeitig wird die Zinskurve flacher. Was passiert hier gerade?

Ich schaue auf die OIS (Overnight Index Swaps). Diese reflektieren die Markterwartungen für die US-Leitzinsen. Wenn man die Markterwartung der nächsten fünf mit den nächsten 30 Jahren vergleicht, hat man ein Verständnis, was der Bondmarkt auf kurze und auf lange Sicht erwartet. Die fünfjährigen Overnight Swap Rates gingen natürlich hoch. Doch diejenigen auf 30 Jahre bewegten sich nicht. Am letzten Donnerstag hat sich die OIS-Zinskurve das erste Mal seit Juli 2018 invertiert. 

Dies ist bekanntlich ein schlechtes Zeichen für das Wirtschaftswachstum…

Als sich dies im Sommer 2018 ereignete, signalisierte dies der Fed, dass das kontinuierliche Anheben der Leitzinsen die Privatwirtschaft abwürgen würde. Und das passierte auch. Die gestiegenen Kapital- und Kreditkosten verminderten das Wirtschaftswachstum und führten im vierten Quartal 2018 zu einer starken Korrektur am Aktienmarkt. Zu Beginn von 2019 beerdigte dann Powell seine geldpolitische Straffung. Eine ähnliche Geschichte braut sich auch heute zusammen. Dies zeigt sich nicht sofort am Aktienmarkt, sondern zuerst in den Unternehmensergebnissen.

Warum ist die Privatwirtschaft so anfällig auf Leitzinserhöhungen?

Ohne günstige Finanzierungsbedingungen ist die Wirtschaft nur in der Lage, geringfügiges strukturelles Wachstum zu generieren. Dieses ist schlussendlich die Summe von Arbeitsangebot und Produktivität, deren Wachstumsraten sehr klein sind. Wollen wir mit einem halben Prozent pro Jahr wachsen? Das ist sozial nicht akzeptiert. Also leihen wir uns Geld. Und um Geld zu leihen und dies nachhaltig zu machen, braucht es tiefe Zinsen, insbesondere tiefe Realzinsen. Und jetzt macht man das Gegenteil. Man hebt die Realzinsen schnell an, indem man die Nominalzinsen stark erhöht und die Inflation damit senkt. Das wird die wirtschaftliche Aktivität mit der Zeit verlangsamen.

Was bedeutet diese Ausgangslage für die Aktienmärkte?

Die zukünftige Rendite am Aktienmarkt beruht auf zwei Komponenten: Den Unternehmensgewinnen und den Bewertungen. Letztere sind heute historisch hoch. Eine Denkrichtung sagt, Aktienbewertungen reflektieren einzig den zukünftigen Cashflow von Unternehmen. Doch auch Realzinsen sind bei Investitionsentscheiden bedeutend. 100'000 Franken auf einem Bankkonto generieren keine Zinsen mehr, sondern die Inflation mindert den Wert noch. Leute sehen dies als Steuer und sind gezwungen, in risikoreichere Vermögenswerte zu gehen, um die Kaufkraft zu erhalten. Dieser Anreiz wird die Bewertungen langfristig erhöhen. Für mich hat das Argument mit den Realzinsen mehr Gewicht. 

Und was ist mit den Unternehmensgewinnen?

Unternehmensgewinne tendieren dazu, auf lange Sicht zu wachsen. Dies ist das Konzept unseres Währungssystems. Und wenn wir nicht strukturell wachsen können, dann muss ein Kreditwachstum den notwendigen Impuls liefern. Dies geschieht aber zyklisch. 

Doch was gilt jetzt auf kurze Sicht?

Die Unternehmensgewinne können zukünftig nicht gut ausschauen, wenn Regierungen ihre Fiskalprogramme zurücknehmen und Banken nur geringfügig mehr Geld verleihen. Und mit einer noch restriktiveren Haltung der Fed verschärft sich das Problem weiter. Wenn Unternehmen mit ihren Gewinnen enttäuschen, hat insbesondere der zyklische Teil des Aktienmarktes Probleme. Tech-Aktien sind hingegen sehr von der Bewertungsseite abhängig. Strukturell mag ich diesen Bereich sehr, denn wir befinden uns in einem technologischen Übergang. Auf kurze Sicht ist es aber ein wilder Ritt. Denn die Fed bringt die Realzinsen hoch, was die Abdiskontierung der zukünftigen Cashflows direkt betrifft. Das ist für den Nettowert dieser Cashflows, den Aktienkurs, nicht gut.

Ist die laufende Korrektur bei den Tech-Werten daher eine Kaufchance?

Realzinsen können langfristig nicht hochgehen. Wenn sie dies tun, haben wir alle ein Problem. Das führt zu einem Wachstumseinbruch, aus dem wir nur durch mehr Schulden wieder herauskommen. Ausser wir haben plötzlich einen wirklichen Produktivitätsschub oder einen demographischen Aufschwung. Wenn ich also langfristig am Aktienmarkt investiert sein will, dann im wachstumsstarken Tech-Sektor. Doch nachdem die Fed noch restriktiver in ihrer Haltung geworden ist, bin ich sehr defensiv aufgestellt.

Wie erfolgreich sind Sie beim Investieren?

Meine Erfolgsrate liegt bei 54 Prozent. Wer sagt, er liege immer richtig, lügt einfach. Sicherlich werde ich oft falsch liegen, ich bin kein Guru. Um Geld zu verdienen, muss man die Fehltritte minimieren und die Erfolge maximieren. Bei jedem kurzfristigen Investment bin ich bereit, maximal 2 Prozent des eingesetzten Kapitals zu verlieren. Und der Einsatz variiert mit der zugrundeliegenden Volatilität des Basiswerts.

Was unterscheidet einen erfolgreichen Investor vom grossen Rest?

Erfolgreiche Investoren haben ein kleines Ego. Nehmen wir beispielsweise Stanley Druckenmiller. Er würde dir sagen: 'Ich liege sehr oft falsch und habe kein Problem damit. Wenn ich falsch liege, stoppe ich und wechsle zum nächsten Investment.' Nicht-erfolgreiche Investoren werden Ausreden suchen, um ihr Narrativ aufrechtzuerhalten und ignorieren dabei die Preisentwicklung. Emotionen beim Investieren sind problematisch. Es führt dazu, dass Sachverhalte nicht aus einer rationalen Perspektive beurteilt werden.

Menschen wollen ihre Verluste nicht reduzieren…

Ja, das ist der Punkt. Am Ende des Jahres zählt die Gegenüberstellung von Gewinnen und Verlusten. Um die Verluste einzudämmen, geht man am besten systematisch vor. Für jedes kurzfristige Investment erstelle ich einen Stopp-Loss. So muss ich nicht darüber nachdenken, was passiert. Meine Haltedauer beträgt in diesem Portfolio zwischen einem und drei Monaten. Es kann auch länger sein. Ich habe neben meinem Trading-Portfolio aber auch ein langfristiges Portfolio, das ich kaum anrühre. Dort mache ich einzig ein Rebalancing von Zeit zu Zeit.

Alfonso Peccatiello war bis vor kurzem Manager eines 20 Milliarden Dollar schweren Anleihenportfolios für die niederländische Grossbank ING. Jetzt schreibt er hauptberuflich den wöchentlichen Newsletter "The Macro Compass" und verwaltet sein eigenes Vermögen.

ManuelBoeck
Manuel BoeckMehr erfahren