"Ich habe in meinem Leben wenig geplant", sagte Cassis der Nachrichtenagentur Keystone-SDA kurz vor seiner Wahl in den Bundesrat im Jahr 2017. Während andere gezielt eine politische Karriere nach Mass anstreben, scheint es so, als "passierte" Cassis die Wahl in den Bundesrat. Nun wird er 2022 Bundespräsident.

Denn politisch war Cassis ein Spätzünder. Der Tessiner studierte Medizin und wurde Tessiner Kantonsarzt. Weil die FDP des Kantons Tessin 2003 einen Arzt für die Nationalratsliste suchte, liess er sich aufstellen und landete auf dem ersten Ersatzplatz. Mit der Wahl von Laura Sadis in die Tessiner Kantonsregierung rutschte der damals 46-jährige Quereinsteiger 2007 nach und wurde Nationalrat. 2015 wurde er Fraktionspräsident der FDP.

Kollegialität und Freiheit

Am 20. September 2017 wählte die Vereinigte Bundesversammlung Ignazio Cassis in den Bundesrat. Nach Flavio Cotti im Jahr 1999 musste der Kanton Tessin 18 Jahre auf einen Bundesratssitz warten - nun war der Tag da. Bereits im zweiten Wahlgang setzte sich Cassis gegen seinen Konkurrenten Pierre Maudet durch. Maudet war zu der Zeit für die FDP in der Genfer Kantonsregierung.

Bei seiner Rede zur Annahme der Wahl versprach Cassis, sich an das "für die Schweiz einzigartige Kollegialitätsprinzip" zu halten und zitierte die Kommunistin Rosa Luxemburg, wonach die Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden sei. Der Satz sollte wohl als Ausdruck der Toleranz verstanden werden, sorgte im Nationalratssaal aber auch für ein Lachen.

Reset- und Delete-Knöpfe

Von seinem zurückgetretenen FDP-Parteikollegen Didier Burkhalter übernahm Cassis das Aussendepartement EDA. Als Cassis im Vorfeld der Wahl in den Bundesrat 2017 sagte, man müsse beim umstrittenen Rahmenvertrag mit der EU den "Reset-Knopf" drücken, dachte er wohl nicht, dass es vier Jahre später die "Delete"-Taste sein wird, und der Bundesrat die Verhandlungen um ein Rahmenabkommen mit der EU abbricht. Aber der Reihe nach.

Im Dezember 2018 trat Cassis vor die Medien und präsentierte das ausgehandelte Rahmenabkommen mit der EU. Weil der Bundesrat jedoch weder die flankierenden Massnahmen anpassen, noch die Unionsbürgerrichtlinie übernehmen wolle, unterzeichne der Bundesrat das Abkommen nicht.

Mit einem Personalwechsel versuchte Cassis im Oktober 2020 die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. Er setzte den Verhandlungsführer mit der EU und damals ranghöchsten Schweizer Diplomaten, Roberto Balzaretti ab und vergab den Posten an die damalige Schweizer Botschafterin in Paris, Livia Leu Agosti. Es half nichts, die Schweiz brach die Verhandlungen im Mail 2021 später ab.

Brüssel, New York und Peking

Die Frage, wie das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU wieder stabilisiert werden könnte, dürfte Cassis grösste Aufgabe bleiben - auch als Bundespräsident.

Neben diesem Dossier stehen in der laufenden Legislatur weitere gewichtige Themen an, wie die Kandidatur für einen nichtständigen Sitz der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat für die Periode 2023-2024 oder das Verhältnis der Schweiz zu China.

Der Bundesrat will das 2014 in Kraft getretene Freihandelsabkommen aktualisieren - im Parlament formiert sich wegen der Menschenrechtslage Widerstand.

Cassis dürfte die Arbeit im Präsidialjahr also nicht ausgehen - geplant oder ungeplant.

(AWP)