Seit Neuestem stehen drei Daten der neuesten Chinesischen Geschichte im Vordergrund. 1949: Staatsgründung durch Mao Dsedong. 1978: Abkehr von der Planwirtschaft hin zu Wirtschaftsreform und Öffnung nach Aussen durch Deng Xiaoping. Schliesslich 2021: Bekenntnis des Wiedererstarkten Chinas mit einer neuen Rolle in der internationalen Gemeinschaft durch Xi Jinping.

Das Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas hat im November vier Tage in Peking getagt und dazu eine "Resolution über die grossen Erfolge und historischen Erfahrungen" der Partei verabschiedet. Nach Mao und Deng hat damit der jetzige Partei-, Militär- und Staatschef Xi Jinping eine neue, ganz eigene Epoche in der neuesten Geschichte Chinas eingeleitet. Das passt dem Westen, also Europa und Amerika, aber auch Japan gar nicht ins seit langem gehegte und gepflegte anti-chinesische Kalkül. Die Verurteilung Chinas in den Medien und in der Politik wird zunehmend schriller.

Konvergenz-Theorie

Seit Beginn der Reform vor über vierzig Jahren nämlich ist man von Washington über Brüssel bis hin nach Tokio ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass eher früher als später die Konvergenz-Theorie sich erfüllen werde. Dabei wird davon ausgegangen, dass mit fortschreitender Reform und wachsendem Wohlstand auch in China sich Demokratie, natürlich der westlichen Art, durchsetzen werde. Geradezu euphorisch wurde die chinesische Reform in den 1980er-Jahren im Westen gefeiert. Bis zum 4. Juni 1989, als die Volksbefreiungsarmee auf Befehl Deng Xiaopings die Demonstrationen von Arbeitern und Studenten gegen Korruption und mehr Transparenz auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens manu militari beendete. Dengs Verdikt war richtig, denn er erinnerte sich an das Chaos der "Grossen Proletarischen Kulturrevolution" (1966-76). Ohne Eingreifen der Armee wäre heute wohl der Wohlstand der Chinesinnen und Chinesen geringer und die absolute Armut noch immer nicht besiegt.

«Konterrevolutionärer Aufstand»

Dass allerdings der lauthalse Widerspruch von Arbeitern und Studenten 1989 in Peking und andern Städten in Chinas offizieller Geschichte noch immer als "konterrevolutionärer Aufstand" bezeichnet wird, ist historisch schlicht falsch. Es war kein "konterrevolutionärer Aufstand", sondern eine Tragödie. Was allerdings die Pekinger Studenten von 1989 mit den aufmüpfigen Hong Konger Studenten von 2014 und 2019 verbindet, ist die Tatsache, dass sie "Demokratie" nicht begriffen haben. Denn Demokratie ist in der Essenz die Bereitschaft zum Kompromiss. Doch sowohl 1989 in Peking als auch 2014 und 20019 in Hong Kong wollten die Studenten nur ihre Ansichten und Vorschläge gelten lassen und zwar zu 200 Prozent.  

Multipolare Welt

Parteichef Xi Jinping, nun auf einem ähnlichen historischen Status wie seine Vorgänger Mao und Deng, strebt, wie er in den letzten Jahren nicht müde wurde zu betonen, die "grosse Renaissance der chinesischen Nation" an. Das tönt in westlichen Ohren etwas vollmundig, doch China war – zusammen mit Indien – bis 1820 punkto Brutto-Inlandprodukt dem Westen weit überlegen. Zudem hat das Reich der Mitte unter anderem Stahl, Buchdruck, Papier, Porzellan, Kompass, Schiesspulver und vieles mehr erfunden. Was Xi anstrebt ist – entgegen den seit Jahren wiederholten westlichen Anschuldigung – nicht Weltherrschaft oder ein Chinesisches Jahrhundert, sondern eine multipolare Welt. Also nicht mehr wie seit über 70 Jahren eine Welt unter amerikanischem Diktat. Kurz, China will in der internationalen Arena von der Weltbank bis hin zur UNO eine wichtigere Rolle spielen als bisher. Im eigenen Hinterhof, also im Süd- und Ost-Chinesischen Meer will Peking allerdings das entscheidende Wort mitreden. Wie würden wohl, so muss man in diesem Zusammenhang fragen, die Vereinigten Staaten reagieren, wenn zwischen Florida und der Karibik plötzlich Chinesische Flugzeugträger aufkreuzten? Die USA nehmen hingegen für sich bis auf den heutigen Tag schon ganz selbstverständlich das Recht heraus, in der Strasse von Formosa oder im Südchinesischen Meer mit ihren Flugzeugträgern zu kreuzen. 

Das Plenum

Eine der wichtigsten Punkte der chinesischen Innenpolitik wird im Westen meist übersehen, nämlich das in der Regel einmal jährlich tagende ZK-Plenum in Chinas Hauptstadt Peking. Das entscheidenden Polit-Powwow findet wie immer hinter unüberwindlich verschlossenen Türen statt. Ueber Politik, Wirtschaft, Personalien wird beraten und entschieden. Beteiligt ist die Crème de la Crème der 95 Millionen Mitglieder zählenden allmächtigen Kommunistischen Partei, als da sind Minister, regionale Parteichefs, Generäle, CEOs der mächtigsten Staatsfirmen, die Parteiführung oder Provinzgouverneure. Dieses Jahr waren es insgesamt 197 Vollmitglieder und 151 Alternierende Mitglieder, meist Männer, denn unter den rund 350 Anwesenden wurden gerade einmal 30 Frauen gezählt.

«China ist aufgestanden»

Die verabschiedete Resolution hat nicht nur auf Parteichinesisch "historischen" Charakter. Erst zweimal, nämlich 1945 und 1979/81, verabschiedeten die Delegierten ähnliche Resolutionen, die eine neue Epoche in der Geschichte Chinas einleiteten. Nach dem Ende des II. Weltkrieges liess Mao eine Resolution "über gewisse Fragen in der Geschichte unserer Partei" verabschieden, denn er war der Ansicht, dass es "notwendig sei, die Vergangenheit in den Dienst der Gegenwart zu stellen". Damit gründete Mao sozusagen die rote Dynastie. Vom Tor des Himmlischen Friedens in Peking – dem Zentrum Chinas, ja der Welt – verkündete dann Mao vier Jahre später nach gewonnenem Bürgerkrieg: "China ist aufgestanden", dies nach einem "Jahrhundert der Schande", unterdrückt vom Imperialismus Europas, Amerikas und Japans. Chinas eigene Schwächen blieben in der Geschichts-Resolution unerwähnt.

«Reich sein ist glorreich»

Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping leitete dann mit dem berühmten 3. Plenum des 11. Zentralkomitees 1978 die neue Epoche hin zur Prosperität ein, d.h. Abkehr vom sowjetischen Modell der Planwirtschaft hin zu wirtschaftlicher Reform und Oeffnung nach Aussen. Deng Xiaopings wie immer griffige Slogans hiessen etwa "reich sein ist glorreich" oder "es spielt keine Rolle, ob die Katze weiss oder schwarz ist, Hauptsache, sie fängt Mäuse". Dengs Reformen entsprangen nicht einer grossen Vision, sondern waren echt Chinesisch stets pragmatisch und nah an der Wirklichkeit. So wurde die Reform der Landwirtschaft vom nachmaligen Parteichef Zhao Ziyang in der Provinz Anhui zunächst im kleinen Massstab getestet und nach dem Erfolg auf die Provinz und später auf ganz China ausgedehnt. Aehnlich verlief die Industrie-Reform. Dengs enger Mitarbeiter Xi Zhongcun – Vater des jetzigen Parteichefs – errichtete im Südchinesischen Shenzhen die erste Sonderwirtschaftszone. Das erfolgreiche Konzept wurde später auf ganz China ausgedehnt. Dengs Maxime in internationalen Angelegenheiten war klar, er empfahl die "Stärken des Landes zu verstecken und auf den richtigen Augenblick zu waren".

«Chaos»

1981 wurde in einer Geschichts-Resolution die "Grosse Proletarische Kulturrevolution" als "Chaos" verurteilt. Dennoch fiel das offizielle Urteil über Mao milde aus: 70 Prozent gut, 30 Prozent schlecht oder anders ausgedrückt: " Maos Beiträge zur Chinesischen Revolution wiegen seine Fehler bei weitem auf". So wird der Grosse Sprung nach Vorn (1958-61) mit der katastrophalen Hungernot mit je nach Schätzung 35 bis 45 Millionen Todesoper offiziell und in Schulen noch immer als Naturkatastrophe abgehandelt. Auch das Eingreifen der Armee 1989 in Peking ist nach wie vor tabu.

Ohne Zweifel ist das jährliche Plenum gleich nach dem alle fünf Jahre stattfindenden Parteitag und noch vor dem jährlich im März tagenden Nationalen Volkskongress das wichtigste politische Ereignis des Landes. Was durch das Plenum verabschiedet wurde, nahm jeweils wenig später politisch, sozial, wirtschaftlich und personell konkret Form an.  Nach dem jetzigen Plenum werden im Communiqué Mao, Deng und Xi in den höchsten Tönen gelobt. Sie seien für die "enormen Veränderungen vom Aufstehen (1949) über "Wohlhabend Werden" (1978) bis hin zum "Stark Werden" (2021) verantwortlich.

«Nationale Auferstehung»

Nachdem Xi Jinping bereits 2016 als "Kern" der Führung bezeichnet worden ist, wurden seine "Gedanken" in die Parteiverfassung aufgenommen. Nach dem eben zu Ende gegangenen Plenum wurde Xi gefeiert als Vordenker einer eigenen "innovativen Philosophie", die "einen neuen Durchbruch bei der Anpassung des Marxismus an den chinesischen Kontext darstellt". Das Jahrhundertziel bis 2049 wird für China mit folgenden Worten umschrieben: "voll entwickelt, wohlhabend und mächtig". Xi machte es am Plenum für die internationale Gemeinschaft klar und deutlich: "Die Aera, in der die chinesische Nation abgeschlachtet und drangsaliert wurde, ist für immer vorbei". Warnend fügte er hinzu: Ausländische Kräfte, die es dennoch wagten, werden "an der grossen Mauer aus Stahl, geschmiedet aus 1,4 Milliarden Chinesen, zerschellen". Kurz: "Die nationale Auferstehung Chinas ist eine historische Unvermeidlichkeit".

«Kern der Partei»

Auch ein drittes fünfjähriges Mandat liess sich Xi Jinping gewähren, nachdem die Amtszeitbeschränkung von zwei fünfjährigen Mandaten aufgehoben worden ist. Das Plenum unterstützt jetzt noch einmal ausdrücklich Xis Amtszeitverlängerung: "Xi Jinpings Bemühungen, sowohl das ZK als auch die ganze Partei zu festigen, war von entscheidender Bedeutung für das Voranschreiten hin zur grossen Verjüngung der Chinesischen Nation". Dann setzt das Plenum noch eins drauf: "Wenn wir entschlossen die Position von Generalsekretär Xi Jinping als Kern der Partei hochhalten (….), wird das grosse Steuerrad des Wiedererstarkens der Chinesischen Nation einen neuen Steuermann haben". Dieser Steuermann wird gewiss am kommenden, alle fünf Jahre durchgeführten Parteitag im Hebst 2022 zu einer neuen fünfjährigen Amtszeit gewählt.

«Gemeinsamer Wohlstand»

Die Herausforderungen für die Partei und Xi sind gross. Es gilt ein jährliches Wirtschaftswachstum von über 6 Prozent zu erreichen, so jedenfalls will es der einmal jährlich jeweils im März tagende Volkskongress, um die jährlich über zehn Millionen notwendigen neuen Arbeitsplätze zu schaffen. Zudem gilt es, die Falle des mittleren Einkommens – in der zum Beispiel Thailand oder Malaysia stecken – erfolgreich zu umgehen, damit so die Mittelklasse von derzeit je nach Schätzung zwischen 350 und 430 Millionen auf 500 Millionen im Jahre 2025 und 750 Millionen im Jahre 2035 wächst und so ein Wachstum von dannzumal 4 bis 5 Prozent zu garantieren. Xis Gesamtziel ist es, "gemeinsamen Wohlstand" zu schaffen, die Korruption entscheidend zu bekämpfen und den immensen Abstand zwischen Arm und Reich einzuebnen.

Covid

Die kommenden Jahre werden zeigen, ob das gelingen wird. Makroökonomisch stehen die Zeichen gut. China hat die Pandemie erfolgreich bekämpft – der Westen könnte durchaus etwas lernen. Die Null-Covid-Strategie jedenfalls hat sowohl den einzelnen Chinesinnen und Chinesen gesundheitlich etwas gebracht, als auch der Gesamtwirtschaft zur Erholung verholfen. Noch ist das Reich der Mitte vorläufig von aussen kaum erreichbar. Doch dieser Zustand ist nur eine Frage der Zeit. Viel wird auch davon abhängen, wie Europäische Länder und die USA mit der Covid-Pandemie fertig werden. Nur beobachten, abwarten und dann ein paar halbherzige Massnahmen wie in der Schweiz beispielshalber – immer mit Hinweis auf die Freiheit des Einzelnen und der Demokratie – ist es nicht getan. China, so dass Narrativ im Westen, schliesse sich mit dem Covid-Vorwand absichtlich von der internationalen Gemeinschaft ab. Der ehemalige "Spiegel"-Chefredaktor Aust etwa hat das zusammen mit einem Sinologen in einem Buch ohne Rücksicht auf Fakten behauptet. Bereits vor fünf Jahren hat Peking die Wirtschaftspolitik verändert unter der Devise: Weniger Abhängigkeit vom Export, mehr Konsum auf dem Heimmarkt. Das ist jedoch keine Abkehr von der globalen Wirtschaft. Damit will sich China vielmehr von der "Werkstatt der Welt" hin zu einer neuen Wertschöpfungskette mit mehr Innovation und Nachhaltigkeit entwickeln. Das ist bislang recht gut gelungen, wie die panische Furcht des Westens vor neuesten fortschrittlichen, genuin chinesischen Entwicklungen zeigen.

«Offene Arme»

Doch Chinas Führung ist klar, dass in einer multipolaren Welt internationale Zusammenarbeit ein Muss ist. "Nein, China schliesst sich nicht ab" wird seit Wochen in den Staatsmedien verkündet. Vize-Präsident und ehemaliges Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros an einem von der Nachrichten-Agentur Bloomberg veranstalteten Forum: "China kann sich nicht entwickeln, in dem es sich vom Rest der Welt isoliert. China wird seine Arme offenhalten und weiterhin Investitions-Möglichkeiten sowie Wachstum für die Welt bieten". Aehnlich dezidiert äusserten sich in den letzten Wochen Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping und Premierminister Li Keqiang.

Der Grosse Steuermann

Xi Jinping als der Grosse Steuermann? Maos Titel "Der Grosse Vorsitzende" liess Deng Xiaoping mit Hinweis auf kollektive Führung streichen. Aber einem Grossen Steuermann steht offenbar nichts entgegen und ist wieder möglich. Im Westen wird zwar Xi immer wieder mit Mao verglichen. Doch der Verglich ist falsch. Xi nämlich verkörpert mit neuen Ideen und einer neuen Politik den Beginn einer genuin eigenen Epoche der jüngsten Chinesischen Geschichte. Und dank seiner Leistungen ist er beliebt oder zumindest geachtet beim Volk. Nach Mao und Deng ist Xi als Steuermann der dritte rote Kaiser.