cash: Herr Chu, Sie nahmen am letzten Donnerstag am WEF an einem Lunch mit dem Vize-Präsident der Volksrepublik China, Li Yuanchao, teil. Was wurde da besprochen?

Victor L.L. Chu: Das Gespräch war sehr konstruktiv. Li Yuanchao war sehr deutlich bei dem, was er sagte. Er machte klar, dass sich China weiter aktiv sein Reformprogramm umsetzen und sich wirtschaftlich weiter öffnen will. Und da China im Jahr 2016 die Präsidentschaft der G20-Länder übernommen hat, wurde auch klar, dass China sich mehr engagieren will bei der Lösung der globalen Hauptprobleme.

In den industrialisierten Ländern breitet sich Sorge über den Zustand der Wirtschaft in China aus. Wie besorgt sollten wir sein?

Die Wachstumszahl von 6,9 Prozent für 2015 hat natürlich einige Bedenken ausgelöst, Aber wir müssen uns bewusst sein, dass dies immer noch eine sehr beachtliche Zahl ist. Ich glaube, China strengt sich sehr an, um wirtschaftlich auf Kurs zu bleiben. Eine wichtige Rolle spielt die Politik. Da gibt es in China einen Mangel an Klarheit bei gewissen Angelegenheiten. Aber wegen der G20-Präsidentschaft wird China seine Positionen so gut wie möglich darlegen.

Dann sind sie eher optimistisch für die wirtschaftliche Zukunft des Landes?

Ich bin auf mittel- und langfristige Sicht einigermassen optimistisch, dass China seinen Kurs wird halten können. Kurzfristig ist China natürlich auch betroffen von den globalen Herausforderungen. Wenn sich die Wirtschaft Chinas etwas verlangsamt, spüren dies hauptsächlich die Länder, die von Rohstoffen abhängig sind. Wir wussten, dass diese Verlangsamung in China kommen würde. Wir wussten auch, dass China sein Wachstums-Motto verändert: Von Exporten der verarbeiteten Industrie hin zu Binnen-Konsum und Dienstleistungen. Letztere wachsen 25 bis 30 Prozent pro Jahr.

Kann man den offiziellen Wachstumszahlen aus China überhaupt Glauben schenken?

Die Zahlen sind heute viel differenzierter als zum Beispiel vor 15 Jahren. Ich glaube, die heutigen Zahlen stimmen mehr oder weniger. Auch auf der anderen Seite hat sich die Perspektive etwas verändert: Die internationalen Investoren schauen heute viel differenzierter nach China als früher.

Demnach haben die Märkte in den letzten Wochen und Monaten in Sachen China aus Ihrer Sicht überreagiert?

Die schnell einsetzende und steile Marktvolatilität in den letzten Woche war sicher nicht hilfreich. Und die Art und Weise, wie die Regierung Chinas einzugreifen versuchte, war kontraproduktiv. Ich glaube, Chinas Regierung hat hier Lehrgeld bezahlt. Schauen Sie: Der chinesische Kapitalmarkt ist bloss 25 Jahre alt. Hier ist China noch so etwas wie ein Schwellenland. Und in allen Schwellenländern gibt es Hochs und Tiefs. Diese Länder müssen aus ihren Fehlern lernen. Wir können die reifen Märkte nicht mit den Schwellenlandmärkten vergleichen. Bezüglich Kapitalmärkte haben wir über 100 Jahre Erfahrung. 

Wie lange wird die extreme Volatilität an den Märkten noch andauern?

Die Märkte sind heute global. Was sich in China passiert, breitet sich auf Europa aus und dann in die USA und wieder zurück. Ich persönlich glaube, dass die hohe Volatilität einen Monat oder so andauern wird. Das müssen wir dann erst mal verdauen. Langfristig gesehen sind die Fundamentaldaten auf globaler Ebene sicher anspruchsvoll, aber sie sind nicht so schlecht, wie wir vielleicht alle denken mögen. Wir befinden uns nicht inmitten eines Kollapses. Die Welt wird sich auf ein langsameres, aber qualitativ hochstehenderes Wachstum einstellen. 

Sie waren bis 2014 Verwaltungsrat von Zurich Insurance Group. Der Versicherer hat letzte Woche eine Gewinnwarnung herausgegeben. Dazu ist der Posten des CEO vakant. Wie sehen Sie die Zukunft von Zurich?

Wenn ich Investor wäre, dann würde ich jetzt Zurich-Aktien kaufen. Der Titel ist substanziell unterbewertet. Fundamental gesehen ist das eine grossartige, solide Gesellschaft. Zurich hat einen guten Heimmarkt und international eine seriöse Reputation. Ich hoffe, dass das Unternehmen seine Angelegenheiten schnell lösen kann.

Victor Lap Lik Chu ist seit 1988 CEO und Chairman der First Eastern Investment Group in Sitz in Hongkong. Sie ist eine der führenden Investmentgesellschaften in China, das sich auf Eigenkapital, Venture Capital und insbesondere auf die Finanzierung von Unternehmensexpansionen spezialisiert. Chu wurde 1957 in China geboren und kam in Alter von vier Jahren nach Hongkong. Er besitzt die britische Staatsbürgerschaft. Im Jahr 2011 gewann Chu zusammen mit Prof. Lawrence Summers und Jean-Claude Trichet den Weltwirtschaftlichen Preis des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Von 2008 bis 2014 war Chu Verwaltungsrat bei der Zurich Insurance Group.

Das Interview wurde am WEF 2016 in Davos geführt, das am Samstag zu Ende ging.