"Es ist wichtig, mit Menschen zu reden, die hunderte, tausende Patienten gesehen haben", sagte der Co-Präsident des chinesisch-deutschen Freundschaftskrankenhauses Tongji in Wuhan am Montag im Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters. Deshalb plädiert er dafür, auf die Erkenntnisse chinesischer Ärzte zu schauen. "Diese sind uns an Erfahrungen erheblich voraus."
Nagel hält derzeit von Deutschland aus per Videoschalte den Kontakt zum Krankenhaus in Wuhan, wo das Coronavirus erstmals aufgetreten ist. Zur Frage, welche Lehren Deutschland aus den Entwicklungen in Wuhan ziehen kann, sagte er, "konsequent und schnell" zu reagieren. Die Zahl der Neuinfektionen gehe 14 Tage nach einem Shutdown herunter. "Aber wir wissen auch, dass man die doppelte Zeit braucht, um die Infektionswege wirklich zu unterbrechen." Deshalb müsse die Ansteckungsdynamik in Deutschland bis nach Ostern unterbrochen werden.
Die Diskussion über Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen hält der Professor für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth zum jetzigen Zeitpunkt für "ausgesprochen schädlich". Ohnehin werde nur über den Zeitpunkt gesprochen, nicht aber über den nötigen Lernprozess. "Es wird nichts wieder so, wie es einmal war. Niemand sollte denken, dass wir uns in der Öffentlichkeit sofort wieder so bewegen wie früher, wenn die Vorschriften einmal gelockert werden."
Eine weitere sehr wichtige Erkenntnis aus Wuhan sei: "Eine Sechs-Stunden-Schicht rettet Leben." In der ersten hektischen Phase hätten Ärzte und medizinisches Personal in der chinesischen Stadt oft 12 bis 14 Stunden gearbeitet. Eine ähnliche Entwicklung habe man in Italien und Spanien gesehen. Erst als in China sehr viel mehr Personal zur Hilfe gekommen sei und die Schichten sich auf sechs Stunden verkürzten, seien sowohl Ansteckungs- und Sterberaten gesunken. Denn das Personal habe sich dann sehr viel genauer an die Vorschriften halten können. Die Kehrseite der Medaille sei allerdings: "Kürzere Schichten bedeuten einen sehr viel höheren Bedarf an Schutzausrüstung."
Dem Testen kommt eine grosse Bedeutung zu
Drittens habe man in Wuhan gelernt, die Behandlung der Corona-Patienten auf wenige Krankenhäuser zu konzentrieren. "Anfangs wurden die Menschen überall behandelt, das hat die Ausbreitung des Virus in der ganzen Stadt noch befördert", sagte Nagel. In Deutschland lerne man langsam von diesen Erfahrungen – etwa durch den Bau eigener Coronavirus-Krankenhäuser an den Messen in Berlin oder Hannover.
Die vierte Lehre aus Wuhan sei, dass man die Bedeutung des Testens erkannt habe. Die Regeln für die Entlassung ehemals Infizierter seien strikt: Ein Patient müsse innerhalb von drei Tagen zweimal negativ getestet werden, bevor er nach Hause dürfe - komme dann aber nochmals 14 Tage in häusliche Quarantäne. Erst wenn der Test danach erneut negativ ausfällt, kann er damit rechnen, wieder in die Öffentlichkeit gehen zu dürfen.
Die Überwachung der ehemals Infizierten erfolge digital: Die Betroffenen seien über ihr Handy über die App WeChat zu orten, die ohnehin viele Chinesen nutzen. "Sie müssen jeden Morgen Fieber messen und ihre Symptome in WeChat eintragen. Sie schaffen also eine Art eigene elektronische Krankenakte", sagte Nagel. Ein System mit roten oder grünen Zeichen auf dem Handy zeige den Menschen anschliessend an, ob sie das Haus verlassen dürften. Als Vorbild für eine demokratische Gesellschaft sieht Nagel dies nur teilweise: "In Deutschland wäre eine Pflicht richtig, eine Covid-19-App nutzen zu müssen – eine Handyortung lehne ich dagegen ab."
Als fünfte Lehre sieht Nagel, "dass wir den Mundschutz als durchaus relevante Grösse ansehen müssen, um die Zahl von Neuinfektionen zu reduzieren". Es müsse diskutiert werden, ob der Mundschutz nicht mehr Bewegungsfreiheit sichern könne, wie dies etwa in Südkorea der Fall sei.
(Reuters)