Angela Merkel setzt der Druck des ins Stocken geratenen deutschen Coronavirus-Impfprogramms zu. Als sie von den Regierungschefs der deutschen Bundesländer während einer nicht-öffentlichen Sitzung Anfang Januar nach Antworten gefragt wurde, reagierte sie barsch.

Sie wurde ärgerlicher, als die Teilnehmer sie jemals gesehen hatten, und drohte zurückzuschlagen und die Fehler der Zuständigen öffentlich zu machen. Darauf schwiegen die Teilnehmer geschockt. Bei anderen Gelegenheiten in der Öffentlichkeit ist sie Beobachtern zufolge in den letzten Wochen den Tränen nahe gewesen. "Mir bricht das Herz, wenn ich sehe, wie viele Menschen in Altenheimen in Einsamkeit gestorben sind", sagte sie kürzlich in einer Rede.

Insider urteilen hart über Merkel

Derartige Emotionen zu zeigen, ist für die nüchtern denkende Physikerin höchst ungewöhnlich. In ihren 15 Jahren an der Spitze der grössten europäischen Wirtschaft ist sie mit einer Krise nach der anderen konfrontiert gewesen und sich dadurch nicht erschüttern lassen. Aber die Pandemie scheint ihr zu entgleiten.

Eine letzte Woche veröffentlichte Meinungsumfrage bestätigt dies. Nur 11 Prozent der Befragten waren kürzlich der Meinung, dass das deutsche Impfprogramm gut laufe, während 61 Prozent grosse Mängel bei der Durchführung sahen.

Regierungsvertretern bitten bei ihren Berichten um Anonymität, da sie über vertrauliche Gespräche innerhalb des Kanzleramts sprechen. Sie sind allerdings der Meinung, dass die Impfpannen des Landes Merkels Handschrift tragen. Ihr Fokus auf die Europäische Union bei der Impfstoffbeschaffung löste Konflikte innerhalb der Bundesregierung aus; auch verliess sie sich auf eine überlastete Europäische Kommission, was die Einführung der Vakzine behinderte. Ein Regierungssprecher lehnte es ab, sich zu den internen Überlegungen zu äussern.

Zunächst lief alles gut...

Die Bemühungen Deutschlands starteten zunächst gut. Merkels Regierung unterstützte die frühzeitige Entwicklung von Impfstoffen, was Deutschland einen Vorsprung gegenüber anderen Ländern verschaffte.

Im April kontaktierte Gesundheitsminister Jens Spahn - der wohl selbst Ambitionen auf das Kanzleramt hatte und der sich auch schon Standpunkte jenseits der Merkel-Linie vertreten hat  - den im westdeutschen Mainz beheimateten Impfstoffhersteller Biontech und bot finanzielle Hilfe an.

Im September erhielt das deutsche Start-Up 375 Millionen Euro an Forschungsgeldern, etwa das Dreifache dessen, was der Börsengang 2019 einbrachte. Im Juni investierte der deutsche Staat 300 Millionen Euro in einen weiteres deutsches Start-Up, Curevac, und erwarb eine Beteiligung, um eine Offerte der Regierung Trump abzuwehren.

... doch im Hintergrund gab es Konflikte

Aber hinter den Kulissen braute sich ein politischer Kampf zusammen. Spahn war der Kanzlerin schon lange ein Dorn im Auge. Die Coronaviruskrise bot ihm die Möglichkeit, sein Profil zu schärfen, und er hatte vor, diese Gelegenheit zu nutzen.

In den ersten Wochen der Pandemie gab Spahn fast täglich Pressekonferenzen, bis das Kanzleramt ihn aufforderte, aus dem Rampenlicht zu treten. Mitte März machte Merkel die Krise zur Chefsache, und der relativ milde Lockdown in Deutschland konnte die Ausbreitung eindämmen. Merkel stand erneut als Retterin der Lage dar.

Impfstoffallianz ging in die Brüche

Aber Spahn blieb aktiv. Im Juni schmiedete er eine Impfstoffallianz mit Frankreich, Italien und den Niederlanden, um so viele Dosen wie möglich zu sichern. Am 13. Juni unterzeichnete die Gruppe einen Vorvertrag mit AstraZeneca über 400 Millionen Impfdosen. In Berlin und Brüssel liess jedoch die eigentlich gute Nachricht die Alarmglocken schrillen.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, bat das Bundeskanzleramt, Spahns Bündnis zu stoppen. Sie machte der Bundeskanzlerin klar, dass Spahns Bemühungen die deutsche EU-Präsidentschaft überschatten könnten. Sie wollte nicht den Ruf erhalten, Deutsche auf Kosten der übrigen EU zu retten. Kurz darauf entschuldigte sich Spahn praktisch für die Initiative.

USA und Grossbritannien waren schneller

"Wir sind uns einig, dass Geschwindigkeit von entscheidender Bedeutung ist. Deswegen halten wir es für sinnvoll, wenn die Kommission die Führung in diesem Prozess übernimmt", erklärten Spahn und seine drei Kollegen in dem Schreiben, das im Januar den Medien zugespielt wurde, um Druck auf Merkel aufzubauen.

Inzwischen starteten die USA die Operation Warp Speed. Im Mai sagte die Regierung Trump 1,2 Milliarden Dollar an Finanzierung für das Impfstoffprojekt von AstraZeneca zu. Im Juli schlossen die USA eine Vereinbarung von 1,95 Milliarden Dollar für den Bezug von 100 Millionen Dosen des Biontech-Vakzins, mit der Option, weitere 500 Millionen Stück zu erwerben. Fast zeitgleich zu dem US-Deal sicherte sich Grossbritannien 30 Millionen Dosen von Biontech und seinem Partner Pfizer.

Langsamer Prozess

In Brüssel passierte indes wenig. Im Juli hat die Kommission ein Biontech-Angebot für 500 Millionen Dosen wegen Bedenken bezüglich des Preises und der superkalten Lagerung der Präparate abgelehnt. Gegen Ende des Sommers war das Kanzleramt zunehmend besorgt über den langsamen Fortschritt, und Merkel bat von der Leyen, die Dinge zu beschleunigen. Ende August unterzeichnete die Kommission einen Vertrag mit AstraZeneca.

Erst am 20. November wurde ein EU-Abkommen mit Biontech abgeschlossen, 11 Tage nachdem das Unternehmen bekannt gegeben hatte, dass sein Impfstoffkandidat in klinischen Studien eine Wirksamkeit von mehr als 90 Prozent zeigte.

Auch das war ein Kampf. Deutschland musste garantieren, dass es bis zu 100 Millionen Dosen abnehmen und weitere 192 Millionen Euro in den EU-Schatulle für Serumeinkäufe einbringen würde. Aber als mehr Studien die Vorteile des Impfstoffes unterstrichen, waren andere Mitgliedstaaten interessiert, und die deutsche Zuteilung wurde mehr als halbiert.

Ein bilaterales Abkommen, das Spahn am 8. September mit Biontech über 30 Millionen Dosen exklusiv für Deutschland unterzeichnet hatte, wurde durch bürokratische Hürden vereitelt.

Schwerfällige Bürokratie

"Der Prozess in Europa lief aber sicherlich nicht so schnell und geradlinig ab wie mit anderen Ländern", sagte der Chief Executive Officer von Biontech Ugur Sahin gegenüber dem Spiegel, und machte dafür die schwerfällige Bürokratie der EU und eine unbekümmerte Haltung verantwortlich. "Es gab die Annahme, dass noch viele andere Firmen mit Impfstoffen kommen. Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle. Mich hat das gewundert."

Der globale Ansatz ist aus wissenschaftlicher Sicht durchaus sinnvoll, und freilich ist es noch ein weiter Weg, auf dem Deutschland, das immer noch besser dran ist als viele andere Länder, aufholen könnte.

Aber politisch machte es ihre Verbündeten nervös, insbesondere mit Blick auf die Wahlen im September. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder - ein möglicher Anwärter auf die Kanzlerschaft - hat zwar Merkels Europakurs unterstützt, aber auch gesagt: "Es ist aber auch nicht verkehrt, sich um die eigene Bevölkerung zu kümmern."

Als Merkel kürzlich gefragt wurde, ob sie bereit wäre, sich für die Pannen zu entschuldigen, lehnte sie dies ab und antwortete stattdessen mit einem Vortrag über den komplexen Produktionsprozess.

(Bloomberg/cash)