Die Arbeitslosigkeit in Grossbritannien ist mit 5,3 Prozent rekordtief. Die Wirtschaft dürfte dieses Jahr um 2,4 Prozent wachsen - weit mehr als die Eurozone. Die Regierung schreibt sich zu, das Land erfolgreich aus der schweren Rezession der Finanzkrise geführt zu haben. "Unser langfristig wirkender Wirtschaftsplan" war einer der Hauptslogans des Wahlkampfs bei den Konservativen bei den letzten Parlamentswahlen.

Der Aufschwung hob David Cameron im vergangenen Mai erneut ins Amt des Premierministers; Die Conservatives oder "Tories" gewannen gar eine absolute Mehrheit, auch deswegen, weil die Wähler der oppositionellen Labour Party zu wenig Wirtschaftskompetenz zugetraut hatten.

Die glänzende Fassade trügt aber auch ein bisschen. Zum einen geschah der Aufschwung unter anderem dank einer lockeren Geldpolitik der Bank von England. Getrieben ist er vom Konsum und vom Immobiliensektor. Das Jobwachstum fand eher im Billiglohn-Sektor statt. Ausserdem steigen die Löhne eher langsam.

Vor allem aber passen andere Daten nicht ins Bild: Das Vereinigte Königreich schiebt eines der grössten Staatsdefizite der westlichen Welt vor sich her. Die Tories versuchen seit 2010, den Staatshaushalt mit Ausgabenkürzungen und mehr Steuern zu stabilisieren. Das Defizit ist allerdings weiter gestiegen, macht das Land weiter sehr verwundbar und bedroht letztlich das AAA-Rating des Landes. Diese Woche hat Schatzkanzler George Osborne angekündigt, dass die Kürzungen schwächer ausfallen sollen als bisher angenommen. Gleichzeitig steuert das nach wie vor mit einem Grossmachtanspruch versehene Land auf einen weiteren, potentiell teuren Krieg im Nahen Osten zu.

«Zwei-Defizit-Wirtschaft»

Chefökonom Keith Wade vom Fondsunternehmen Schroders weist darauf hin, dass Grossbritannien immer noch eine "twin deficit economy" hat, denn das Land hat auch ein Leistungsbilanzdefizit: "Die Aussenhandelsbilanz hat sich deutlich verschlechtert: Mit den tiefen Zinsen fiel viel vom Ertrag der Auslandsinvestitionen weg."

Zwar investiert die übrige Welt auch viel in Grossbritannien. Ähnlich wie der Franken profitiert das Pfund aber auch vom Ruf Grossbritanniens als sehr stabiles Land und vom boomenden Immobilienmarkt, vor allem in London. Auch der Finanzplatz London, neben New York der grösste der Welt, zieht ungeheuer viel Geld an. Das Pfund ist nach Dollar und Euro die drittwichtigste Reservewährung der Welt. Mit dem bestehenden Leistungsbilanzdefizit des Vereinigten Königreichs ist Sterling aber keine starke Währung. Seit der Finanzkrise ist die britische Währung von über 2 auf 1,50 Dollar gefallen.

Mit den Folgen der Finanzkrise schrumpfte der im Vergleich zum Rest der Volkwirtschaft überdimensionierte Finanzsektor auf ein ökonomisch gesehen vernünftigeres Mass. Auf der anderen Seite ist aber die Produktivität der britischen Wirtschaft nach wie vor tief, etwa im Vergleich mit führenden Industrienationen wie Deutschland. "Grossbritannien könnte stärker von der Abwertung des Pfund profitieren, wenn die Produktivität höher wäre", sagt Keith Wade.

Schadet ein Austritt aus der EU?

Daneben hat sich Grossbritannien ein Unsicherheitsthema für die Zukunft selber aufgeladen. Die Regierung verhandelt mit der Europäischen Union und ihren 28 übrigen Mitgliedstaaten neue Bedingungen der EU-Mitgliedschaft. Bis spätestens 2017 muss das Land über den Verbleib in der EU abstimmen.

Strittigster Punkt ist die Einwanderung. Schon seit Jahren liegt die Netto-Zuwanderung über 300'000 Personen, auch dank der vielen neu geschaffenen Arbeitsplätze. David Cameron will, dass Immigranten aus EU-Ländern während vier Jahren keine Sozialleistungen beziehen dürfen - er sähe die Netto-Zuwanderung gern unter 100'000 Personen im Jahr sinken. Sein Vorschlag steht aber im Konflikt mit der EU-Personenfreizügigkeit. Während Deutschland offenbar bereit ist, darüber zumindest teilweise zu verhandeln, winken andere Länder oder auch EU-Institutionen ab. Wie die Verhandlungen ausgehen werden, ist noch ungewiss.

Die Wirtschaft fürchtet nun den so genannten "Brexit", sollte die Bevölkerung mit "ja" stimmen; Ähnlich wie die Schweiz müsste Grossbritannien nach einem EU-Austritt mit der EU bilaterale Verträge abschliessen. Dies würde zunächst eine Unsicherheit auslösen, in der das Land international Marktanteile verlieren würde, sagt Keith Wade: "Wir hätten dann einen Importzoll der EU von etwa zehn Prozent und wären unmittelbar weniger wettbewerbsfähig." Investoren würden Geld abziehen. Das Pfund könnte leiden und nicht zuletzt würde ein Austritt aus der EU dazuführen, dass sich die eher eurofreundlichen Schotten erneut vom Rest des Königreichs abzuspalten versuchen.

Emotionales Thema

In der britischen Bevölkerung wird die Abstimmungsphase aber auch von Faktoren wie der hohen Einwanderung und emotionalen Themen geprägt sein. Die "Leavers", die Brüssel den Rücken kehren wollen, bringen zwei bedeutende Argumente ins Feld: Erstens müsse die Abhängigkeit des britischen Parlaments von der EU beendet werden und zweitens könne die Wirtschaft florieren, wenn die Regierung freie Hand bei Freihandelsabkommen hätte. Derzeit schränkt die EU diese Möglichkeit ein.

Die EU brauche Grossbritannien als Absatzmarkt und würde bilateralen Verträgen zustimmen, heisst ein weiteres Argument. Ein Teil von David Camerons Tories wollen den EU-Austritt. Möglich ist, dass sich der populäre und einflussreiche Bürgermeister von London, Boris Johnson, auf die Seite der EU-Gegner schlägt. Premierminister Cameron, der sich selbst auch gerne und oft mit der EU anlegt, klang in letzter Zeit eher so, als bevorzuge er eine weitere EU-Mitgliedschaft seines Landes. Die Umfragen zur EU-Mitgliedschaft schwanken derzeit stark und geben noch kein verlässliches Bild ab. Zudem steht nicht fest, wann abgestimmt wird: Ein Urnengang ist schon 2016 möglich, aber nicht sicher.

Die für den Beitrag verwendeten Zitate von Keith Wade entstanden während eines Medienanlasses von Schroders in London, zu dem cash eingeladen war.