cash: Markku Wilenius, Sie sind Mitglied des Think Tank Club of Rome und Professor in Finnland. Was macht ein Futurologe eigentlich? Viele Leute sagen ja, Zukunftsforscher seien primär brillante Selbstvermarkter…

Markku Wilenius: (lacht laut) Ich hoffe natürlich nicht, dass das so ist. Ein grosser Teil unserer Arbeit besteht darin, den Unternehmen künftige Möglichkeiten und Risiken aufzuzeigen. Es gibt verschiedene Methoden, wie wir unsere Vorstellung der Zukunft verbessern können. Futurologen haben zwei Perspektiven, welche andere Leute normalerweise nicht haben. Wir haben eine sehr lange Perspektive. Ich zum Beispiel habe einen Denkhorizont bis ins Jahr 2050. Normalerweise machen das nur Klimatologen. Zweitens: Die Futurologen haben eine Art Vogelschau. Das unterscheidet uns auch etwa von Ökonomen.

Sie arbeiteten jahrelang für Allianz in München. Warum gerade bei einem Versicherer?

Bei meiner Tätigkeit für Allianz ging es darum, Kapazitäten und Know-how aufzubauen, wie man unwahrscheinliche Ereignisse antizipieren kann. Die Idee dazu entstand nach den Terrorattacken 2001 in den USA. Die Ereignisse waren auch für Allianz ein Schock. Meine zweite Aufgabe bestand darin, den CEO und das Management herauszufordern.

Inwiefern?

Versicherungen müssen mehr als jede andere Branche die Langfristigkeit der Entwicklungen begreifen. Auf ersten Blick sind Versicherungen Finanzgesellschaften und kaum betroffen beispielsweise vom Klimawandel. Doch in Tat und Wahrheit dreht es sich bei Versicherungen alles um den Klimawandel. Bei der Allianz stellten wir etwa fest, dass immer mehr Schadenmeldungen ihren Ursprung beim Klimawandel hatten. Oder nehmen sie die Demografie. Das ist ein anderes grosses Langfrist-Thema für Versicherer.

Welche andere Branchen könnten einen Futurologen gebrauchen?

Ich denke vor allem an die Autoindustrie. Die Hersteller bringen ja immer eine Unmenge von neuen Automodellen auf den Markt. Aber die Branche wandelt sich ja nur sehr langsam. Ich arbeitete eine zeitlang für BMW, kurz bevor die Marke ihre ersten umweltfreundlichen Autos auf den Markt brachten. Dabei hatte sich das Unternehmen jahrelang keine entsprechende Gedanken gemacht. Plötzlich realisierten sie, dass man auf diesen Zug aufspringen müsse. Jetzt arbeite ich für die Holzverarbeitungsindustrie in Finnland. Das ist eine Branche, die einen fundamentalen Wandel durchmacht. Die Industrie braucht neue Ideen, wie sie mit altem Know-how neue Geschäftsmodelle aufbauen kann.

Zum Thema Europa: Vor acht Jahren schrieben Sie in einem Buch einen Beitrag und behaupteten, Europa fehle es an einer Mission und einer Vision. Stimmt diese Aussage noch?

Leider stimmt sie noch. Wir brauchen auch heute noch visionäre Leute, welche die ersten Ideen des vereinten Europa entwarfen. Europa hat auch in Zukunft einen Platz In der Welt. Weil Europa die finale Verantwortlichkeit für das globale System trägt. Keine andere Region auf der Welt macht das.

Das müssen Sie jetzt erklären.

Schauen Sie doch einmal auf die internationalen Verhandlungen jeglicher Art, sei es beim Welthandel, bei den Klimaverhandlungen, bei der Artenvielfalt und so weiter. Immer führt Europa die Verhandlungen und übernimmt den Lead, immer übernimmt Europa mehr Verantwortung als die anderen. Ich befürchte, dass die USA und Asien in dieser Beziehung künftig noch egoistischer werden als sie es heute schon sind. Die Welt braucht 'Good Old Europe'.

Wenn ich jetzt Amerikaner wäre, würde ich sagen, das ist die alte arrogante europäische Haltung.

Vielleicht. Aber dann würde ich sagen: Schauen wir doch mal die Fakten an. Wenn wir die erwähnten Verhandlungen betrachten, ist der Fall klar. Klar darf man als Europäer nicht arrogant werden, aber Europa spielt in dieser Beziehung eine wichtige Rolle in der internationalen Gemeinschaft. Europas Partner sollten sich dem Weg anschliessen und es gar noch besser machen als die Europäer.

Einen eigenen Weg in Europa geht die Schweiz, aus Ihrem Heimatland Finnland kommen sehr EU-kritische Stimmen, Grossbritannien will über die EU abstimmen. Hat Europa etwa doch keine Zukunft, wie Sie behaupten?

Der föderalistische Weg, wie man Europa aufgebaut hat und baut, ist vielleicht nicht der richtige Weg. Anstelle dessen sollten wir Lösungen finden, wie wir unsere Märkte gemeinsam führen und die Steuersysteme harmonisieren. Die Europäische Union sollte ja nicht bloss ein Friedensprojekt sein. In einer dieser Region mit 400 Millionen Einwohnern brauchen wir, um mehr Prosperität zu erlangen, viel mehr Kooperation als heute. Wir sollten alle rigiden hierarchischen Politsysteme hinter uns lassen. Die Finnen zum Beispiel finden nach wie vor, dass die Europäische Union eine gute Sache ist. Aber sie wollen einfach diese Direktiven aus Brüssel nicht, wie etwa die Gurken auszusehen hätten oder wie viele Mauern unser Land haben darf.

Finanzkrisen, so zeigt die Geschichte, wiederholen sich immer. Warum lernen die Menschen nicht daraus?

Weil sie eine kurzfristige Denkweise haben. Wir haben die Tendenz, die Geschichte zu vergessen. Das passiert immer und immer wieder. Einige Krisen sind unvermeidbar, weil sie eine Dynamik erzeugen. Aber wir haben schlicht noch nicht genug gelernt. Unsere Gesellschaften befinden sich noch immer im Teenager-Modus, und wir müssen noch weiter wachsen. Doch viele Krisen sind schon jetzt vorhersehbar, sie können aus Daten oder gesellschaftlichen Entwicklungen abgelesen werden.

Für viel Diskussionen sorgen in Europa derzeit auch die hohen Entlöhnungen für Top-Manager. Die Bevölkerung opponiert dagegen vehement. Wie deuten Sie das?

Die Leute wollen schlicht und einfach mehr Transparenz, sie werden sich gewisser Sachen bewusst. Wir werden in Zukunft keine kleinen Grüppchen am Rande mehr haben können, welche über die breite Masse entscheidet und welche sich Vermögenswerte zuschanzt. Immer mehr Leute verfügen über eine gute Ausbildung. Wir haben zu akzeptieren, dass die Leute dank dieser Entwicklung sich der Ungerechtigkeiten, die in unserem System eingebaut sind, immer bewusster werden.

Ist das auch in Finnland so?

Selbstverständlich. Vor fünf Jahren machte sich in Finnland niemand Gedanken über hohe Managerlöhne und Verflechtungen auf höchster Firmenebene. Aber diese Themen dominieren heute in Finnland die Diskussionen in den Medien. Nicht weil dies die Medien wollen, sondern weil die Leute mehr Gerechtigkeit fordern.

Im cash-Video-Interview äussert sich Markku Wilenius auch zu globalen Mega-Trends und zum Aufstieg von Asien und China.

Das Interview mit Markku Wilenius fand am Rande der Morningstar Investment Conference Europe von letzter Woche in Wien statt.

Der 45-jährige und aus Finnland stammende Markku Wilenius leitete mehrere Jahre das Zentrum für Zukunftsforschung an der Turku School of Economics. Seit 2007 ist er Professor am Finland Futures Research Centre, von 2007 bis 2009 war er Berater für die Allianz Versicherung. Wilenius ist Mitglied des Club of Rome, einer Organisation, die sich für langfristiges und globales Denken und Handeln einsetzt.