Europapolitisch stehe die Schweiz dieses Jahr am Scheideweg, sagte economiesuisse-Präsident Heinz Karrer an der Jahresmedienkonferenz vom Dienstag in Bern. Bei der Abstimmung über die "Kündigungsinitiative" am 17. Mai stünden die Bilateralen I auf dem Prüfstand.
Economiesuisse-Direktorin Monika Rühl warnte eindringlich vor den Folgen einer Annahme. Der Brexit habe klar gezeigt, dass für die EU die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt untrennbar mit der Personenfreizügigkeit verbunden sei. Der Bundesrat müsste das Freizügigkeitsabkommen spätestens im Juni 2021 kündigen. Wegen der Guillotine-Klausel würde die Schweiz Ende 2021 ohne Bilaterale I dastehen, auch Schengen/Dublin wären gefährdet.
"Erosion hat begonnen"
Damit würde die Schweiz ihren massgeschneiderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt verlieren, von dem sie nun seit bald 17 Jahren profitiere, sagte Rühl. Was das bedeutet, bekommt die Medtech-Branche schon heute zu spüren: Weil das Abkommen über die Anerkennung von Konformitätsbewertungen nicht aktualisiert wird, verliert die wertschöpfungsstarke Branche im Mai wahrscheinlich ihren direkten Zugang zum EU-Markt.
Einige Unternehmen haben reagiert und Schweizer Standorte geschlossen. "Die Erosion des bilateralen Wegs hat bereits begonnen", stellte Karrer fest. Hintergrund dieser Entwicklung ist die zweite europapolitische Grossbaustelle, das institutionelle Abkommen mit der EU. Seit Monaten herrsche bei dem Thema Stillstand, kritisierte Karrer. Economiesuisse verlangt daher vom Bundesrat, das Abkommen noch im laufenden Jahr zu unterzeichnen.
Gegen "Sonderregulierungen"
Ein weiteres Thema, das economiesuisse beschäftigt, ist die Konzernverantwortungs-Initiative, die möglicherweise ebenfalls noch dieses Jahr zur Abstimmung kommt. Der Ständerat hat dazu einen Gegenvorschlag ohne neue Haftungsregeln beschlossen, mit sich der Verband "arrangieren" könnte.
Darüber hinausgehende "Sonderregulierungen", insbesondere eine verschuldensunabhängige Haftung, lehnt economiesuisse ab. Eine solche würde zu einer "einzigartigen Erpressbarkeit der hiesigen Unternehmen" führen, warnte Karrer.
Auch in der Klimapolitik verlangt economiesuisse "marktwirtschaftliche und international abgestimmte Massnahmen". Als Beispiele nannte Karrer Lenkungsabgaben und handelbare Emissionseinsparungen. Eine Klimaverträglichkeitsprüfung, einen Klimafonds oder die Einführung einer Flugticketabgabe lehnt der Verband hingegen ab.
Hürden für Digitalisierung
Weitere aktuelle Anliegen von economiesuisse betreffen die Digitalisierung. Der Verband unterstützt die Vorlage für eine E-ID, über die dieses Jahr ebenfalls noch abgestimmt wird.
Der rasche Ausbau der 5G-Technologie wird laut Karrer von der Politik verhindert. Diese sei eine wichtige Grundlage für die Einführung neuer Technologien. Gemäss einer Studie könnten damit bis ins Jahr 2030 rund 137'000 neue Arbeitsplätze und ein zusätzlicher Produktionswert von über 42 Milliarden Franken geschaffen werden.
"Das neue Parlament und die Stimmübergerinnen und Stimmbürger werden im Lauf der kommenden Monate und Jahre zahlreiche Gelegenheiten haben, mit weitsichtiger Wirtschaftspolitik zu punkten und den Wirtschaftsstandort Schweiz wieder zu stärken", sagte Karrer.
Eigene Ideen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit hat economiesuisse in der Publikation "Kompass 2023 - Mit guter Wirtschaftspolitik für unser Land punkten" zusammengefasst. Themen sind der Steuerwettbewerb, öffentliche Finanzen, Infrastruktur, das Bildungssystem oder die Flexibilität des Arbeitsmarkts.
(AWP)