"Mit unserem neuen Papier wollen wir im Hinblick auf künftige Krisen aufzeigen, was genau besser werden muss," sagt Marcel Salathé im Interview mit dem Tages-Anzeiger. Im Grossen und Ganzen habe die Schweiz die Krisenbewältigung in der Pandemie bisher nicht schlecht gemacht, aber es gebe viel Potenzial für Verbesserungen.

"Die Schweiz hat sehr gute Voraussetzungen, um eine Pandemie zu bewältigen. Wir haben eine starke Wirtschaft, eine international vernetzte Wissenschaft, gute sozioökonomische Bedingungen und ein exzellentes Gesundheitssystem", setzt sein Kollege Christian Althaus hinzu.

Dies habe es der Schweiz erlaubt mit relativ milden Massnahmen einigermassen gut durch die Pandemie zu kommen. Das reiche jedoch nicht aus. Die Schweiz brauche ein aktives Krisenmanagement, um in Europa als positives Beispiel voranzugehen.

Die Reaktionsgeschwindigkeit sei in der Schweiz ein Grundproblem, kritisiert Salathé. "So wurde die zweite Welle erst spät gebremst, der Booster kam spät, die technologischen Mittel wurden oft zu wenig gut und schnell in die Krisenbekämpfung integriert."

In einer Pandemie seien aber manchmal Tage oder Stunden entscheidend. Daher müsse sich die Schweiz auf den nächsten Ernstfall vorbereiten. Die strukturellen Stolpersteine , die die Arbeit verlangsamt hätten, müssten beseitigt, wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Entwicklungen rascher in die Pandemiebekämpfung integriert werden.

Vorbereitung auf künftige Krisen

Mit dem Verein "CH++" möchten die beiden Wissenschaftler einen Beitrag dazu leisten, dass die Schweiz auf der wissenschaftlichen und technologischen Ebene für künftige Krisen besser vorbereitet ist.

"Wir schlagen einen Krisenstab vor, wie es ihn am Anfang der Pandemie gegeben hat. Im Krisenmodus - eventuell auch mit Entscheidungskompetenzen - könnte er für einen effizienteren Austausch zwischen Politik, Behörden und Akteuren aus dem Gesundheitswesen, der Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung sorgen," sagt Epidemiologe Althaus.

Dabei müsse die Wissenschaft nicht bestimmen, betont Salathé. Aber als Entscheidungsgrundlage für die Politiker müssten die Szenarien vorhanden sein.

Als Beispiel für eine positive Pandemiebekämpfung heben die beiden Wissenschafter die skandinavischen Staaten hervor. Auch wenn sie leicht unterschiedliche Strategien verfolgten, sei ihnen gemeinsam, dass sie auf auf technologiebasierte Lösungen setzten und sich politisch und gesellschaftlich sehr geschlossen hinter die Pandemiebekämpfung stellten.

Es gebe dort deshalb weniger impf- und massnahmenskeptische Stimmen. "Das wäre in der Schweiz auch möglich, einem Land mit relativ starkem nationalem Zusammenhalt", meint Althaus. Ein künftiger Krisenstab müsse jedoch auch die stark antizentralistische Kraft in der Schweiz ernst nehmen und sich gut überlegen, wer im Krisenstab sein solle, wie er legitimiert sei und wie lange er bestehen solle, sagt Salathé.

Die Schweiz habe die richtigen Werkzeuge zur Verfügung, um die Situation zu managen. Im Herbst 2020 sei er aber noch zu naiv in der Annahme gewesen, dass diese Tools auch sofort richtig genutzt würden. "Heute haben wir noch mehr Werkzeuge, mit der Impfung, aber auch mit besseren Medikamenten."

Seine Sorge sei jedoch, dass man bald nichts mehr hören wolle von neuen Varianten mit schwereren Verläufen oder mehr Long-Covid-Fällen. "Lasst uns das Beste hoffen, aber lasst uns gleichzeitig gewappnet sein für künftige Wellen!"

(AWP)