Rainer Voss stieg 1979 als Lehrling ins Bankgeschäft ein und war bis 2008 einer der führenden Investmentbanker Deutschlands. Im Dokumentarfilm "Master of the Universe" von Marc Bauder gewährt Voss einen kritischen Blick hinter die Kulissen der Finanzwelt und spricht über ihre Reize und Probleme. cash sprach mit dem Hauptdarsteller des Films.

cash: Rainer Voss, was war der Grund für Ihren Rücktritt vom hoch dotierten Bankerjob?

Rainer Voss: Es gab eine ganze Reihe von Gründen, aber vor allem spürte ich eine grosse Müdigkeit, ein Ausgebranntsein. Und am schlimmsten war das Gefühl, langsam meine Würde zu verlieren. Würdevolle Arbeit bedeutet für mich, produktiv sinnvolle Dinge zu erschaffen. Das können durchaus auch Finanzierungen oder Finanzprodukte sein. Aber wenn ein selbstreferenzielles System aus Angst, nicht zu überleben, ständig neue Konstruktionen mit zweifelhaftem Nutzen an den Markt bringt, hat das etwas Würdeloses.

Gab es denn ein bestimmtes Ereignis, das Ihnen das Gefühl gab, am falschen Arbeitsort zu sein?

Nein, eigentlich nicht. Es war ein schleichender Prozess, der auch mit der persönlichen Entwicklung zu tun hatte und daher nicht verallgemeinert werden kann. Jeder leidet da anders.

Was war anschliessend Ihre Motivation, bei diesem Film mitzumachen?

Erstens hat nach dem Rücktritt in meinem Kopf ein Rad weitergedreht. Die Arbeit war zwar weg, aber ich habe mich gefragt, ob ich die richtige Entscheidung gefällt hatte oder ob ich nicht doch wieder in diese Welt zurück möchte. Irgendwann ist es mir dann gelungen, dieses Rad zu stoppen. Die zweite Motivation war, dass ich sehr wütend bin. Nicht auf eine bestimmte Institution oder auf bestimmte Personen. Ich bin wütend, weil ich 1979 als junger Mann bei einer Sparkasse eine Lehre begonnen hatte. Damals war der Beruf des Bankkaufmanns wie der Pfarrer oder der Arzt im Dorf. Der Beruf hatte etwas Seelsorgerisches. Und heute haben die Banker beinahe einen Ruf, der mit dem eines Kinderschänders vergleichbar ist. Es macht mich wütend, wenn ich sehe, was aus dem Beruf, den ich liebe und den ich auch für volkswirtschaftlich und gesellschaftlich sehr wichtig halte, geworden ist.

Waren Sie denn nicht schon Teil dieses Systems, das Sie nun kritisieren?

Ich kann Ihnen nicht widersprechen. Die Frage ist, wie weit das passiert ist. Es gibt unterschiedliche Stadien. Das schlimme Stadium ist, wenn man nicht mehr merkt, was mit einem passiert. Diesen Punkt habe ich bis zu meinem Rücktritt 2008 nie erreicht. Ich war zwar oft in Situationen, in denen ich mich gefragt habe: Bist das noch du? Aber ich war dann jeweils in der Lage, darauf zu reagieren. Ganz kritisch wird es, wenn man sich diese Frage nicht mehr stellt.

Was hat dazu geführt, dass sich das Bankensystem in die falsche Richtung entwickelt hat?

Es ist eine Art des Bankings, die ich für kontraproduktiv und asozial halte. Das hat dann immer mehr an Fahrt gewonnen bis zu den bekannten Folgen.

Ahnten Sie als junger Investmentbanker, was mit Ihrem Beruf geschehen könnte?

Nein, in keinster Weise. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen, niemand konnte das in den 80er Jahren. Es herrschte eine Stimmung wie in einem Sandkasten: Wir durften alles machen, wozu wir Lust hatten. Nicht im negativen Sinne, sondern auf kreative Art und Weise. Man hat sich hingesetzt und fing an zu programmieren. Die Atmosphäre hatte fast schon den Charakter einer Universität oder eines Start-ups innerhalb der Bank.

Wie stark war die Kultur des Investmentbankings verantwortlich für die Finanzkrise?

Meiner Meinung nach fast ausschliesslich. Es ging ja um den Verlust von Verantwortungsgefühl und Werten. Und aus einem für mich noch unklaren Grund ist der Zusammenhalt zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen abgerissen.

Welche Rolle kam in dieser Entwicklung dem Vergütungssystem zu?

Da muss ich differenzieren. Geld im ursprünglichen Sinne spielt in diesem System keine Rolle. Geld ist der Ausdruck der Liebe, welche die Institution den Angestellten entgegenbringt. Und Menschen können nie genug Liebe kriegen. Die Gier, von der man im Zusammenhang mit Investmentbankern oft spricht, ist keine Gier nach Geld, sondern eine nach Liebe. Deshalb wäre die Frage spannend, ob man diese Gier auch mit einem anderen Symbol als mit Geld befriedigen könnte.

Ist diese Gier auch der Grund, weshalb diese Leute bereit sind, zu jeder erdenklichen Tages- und Nachtzeit zu arbeiten?

Genau. Es gibt in der Branche den Ausdruck 'Two-Nighter', wenn man zwei Nächte am Stück durcharbeitet. Muss ein Arzt 48 Stunden durcharbeiten, dann ist es nötig und er kann seinen Patienten helfen. Aber im Grunde wäre er lieber zu Hause. Bei der Bank aber ist es kein 'müssen', sondern ein 'dürfen'. Arbeit hat da eine völlig andere Funktion. Sie dient nicht mehr dem Erreichen eines Ziels, sondern ist Selbstzweck.

Haben die Risiken des Bankensystems seit Ihrem Rücktritt zugenommen?

Ja, dieses Gefühl habe ich. Der amerikanische Justizminister benutzt ja nicht mehr den Ausdruck 'too big to fail', sondern 'too big to jail'. Nehmen wir das Beispiel JP Morgan. Die sind zwar einen Vergleich von 13 Milliarden Dollar eingegangen. Doch wenn man ein Zinsergebnis von 100 Milliarden hat, ist das nicht mehr sonderlich viel. Ich habe den Eindruck, dass der Finanzmarkt ein bisschen geschrumpft ist. Aber es sind auch viel weniger Player auf diesem Markt. Die einzelnen Banken sind also viel wichtiger für das System geworden. Es ist also genau das Gegenteil von dem passiert, was eigentlich hätte geschehen sollen.

Wie könnte das Bankensystem sicherer gemacht werden?

Einerseits sind regulatorische Massnahmen nötig. Ich würde beispielsweise den Hochfrequenzhandel verbieten. Denn der hat keinen gesellschaftlichen Nutzen. Bei Instrumenten wie Derivaten, die durchaus sehr sinnvoll sind, müsste man den nutzvollen Aspekt betonen und den nutzlosen möglichst aus dem System nehmen. Zudem müssen wir die Kultur des Kaufmanntums zurückholen, damit die schädlichen Dinge gar nicht erst passieren. Im Moment grenzen wir ja ständig Dinge ein, die schon passiert sind. Viel besser wäre es deshalb, ein Berufsethos zu kreieren. Dazu könnte man einen Eid für Banker einführen. Bei Medizinern funktioniert das ja auch. Eine Ethikkommission müsste aus den gesellschaftlich relevanten Gruppen bestehen. Gewerkschaften, Kirchen, Bürgervertreter, Politiker, Vertreter der Finanzwirtschaft und anderen Industrien müssten zusammen an einen Tisch sitzen und zusammen reden und bestimmen, wohin die Reise gehen soll.

Sie erhoffen sich also eine Bankenregulierung, die aus der Institution heraus entsteht?

Ja, deshalb bevorzuge ich auch das kooperative System der Volksbank. Da ist der Depositor gleichzeitig Inhaber der Bank. Somit wird ein risikoreiches Geschäft vermieden und es entsteht ein selbstregulierendes System. Deshalb sind Volksbanken auch vergleichsweise glimpflich durch die Finanzkrise gekommen.

Wenn Sie einen Tag Chef der Finanzmarktaufsicht wären. Was würden Sie als Erstes ändern?

Ich würde der Politik klarmachen, dass ich viermal so viele Leute brauche - und diese müssten in Bezug auf ihre Qualifikation auch auf Augenhöhe sein mit den Leuten, die sie regulieren. Das würde auch für die Gehälter gelten.

Wieso übt der Beruf des Bankers immer noch eine gewisse Faszination auf junge Leute aus?

Das System hat etwas Sektenhaftes, zu dem gewisse Persönlichkeiten gern dazugehören möchten. Das hängt auch damit zusammen, dass an Wirtschaftsschulen gelehrt wird, wie man als kleiner, effizienter Teil einer Produktionskette perfekt funktioniert und weder links noch rechts zu schauen braucht. Dazu braucht man auch keine Moral. Denn man weiss ja nicht, was zuvor oder danach in der Produktionskette passiert. Aber in dem Moment, in dem man das System versteht und Verantwortung dafür spürt, setzt ein Denken ein, das weiter verbreitet sein müsste.

Würde sich denn ein moralisch denkender Mensch im Finanzsektor überhaupt wohl fühlen?

Das denke ich nicht. Ich beneide die Schweizer um ihr Niveau der Wut, das aus meiner Sicht viel höher ist als dasjenige Deutschland. Das hat bestimmt mit Herrn Vasella und anderen Personen zu tun. Aber ich spüre hier mehr Wut. Hinzu kommt, dass die Schweizer die Möglichkeit haben, mit Anliegen wie der 1:12-Initiative ihrer Wut Luft zu verschaffen. Darauf bin ich als Deutscher neidisch.

Würden Sie heute als 20-Jähriger erneut ins Bankbusiness einsteigen?

Auf keinen Fall. Allerdings würde ich meine ersten zehn tollen Jahre als Banker noch einmal erleben wollen und früher aufhören. Abgesehen davon würde jemand mit meinen damaligen Qualifikationen heute bei einer Bank höchstens noch Aufräumarbeiten verrichten.

Wie intensiv verfolgen Sie aktuell das Geschehen an den Finanzmärkten?

Sehr eng. Ich bin immer noch sehr gut vernetzt, auch auf höheren Ebenen. Ich komme nicht von diesem Umfeld los. Ich glaube, das ist auch nicht möglich. Ich verfolge das Geschehen mit Distanz, aber täglich und intensiv.

Wie hat sich Ihr Leben seit Ihrem Rücktritt geändert?

Klar habe ich nicht den Lebensstandard eines Facharbeiters, aber ich habe auch keine Ferrari-Sammlung oder Ähnliches. Mein ultimativer Luxus ist, dass ich jeden Morgen aufstehen kann und mir überlegen kann, worauf ich Lust habe. Am Sonntag habe ich mich beispielsweise zwei Stunden mit der Fortpflanzung von Quallen beschäftigt. Leider haben wir den Müssiggang verlernt. Immer vorausgesetzt, dass man niemandem auf der Tasche liegt und niemandem wehtut.

Hatte Ihr Rücktritt auch soziale Konsequenzen?

Ich hatte noch nie viele Banker als Freunde. Die wenigen, die ich habe, haben mich auch dazu ermutigt, in diesem Film mitzumachen. Aber sonst habe ich kein Feedback aus der Banker-Community erhalten.

Handeln Sie noch an den Finanzmärkten?

Ich bin selber nicht investiert. 2009 habe ich mein Geld zum letzten Mal umgeschichtet. Aktiv gemanagte Vermögensverwaltung halte ich für den grössten Blödsinn, den es gibt. Das Schlimmste ist die Jagd nach dem Alpha. Auf dieser Jagd fallen viele Gebühren an und dabei werden viele Leute reich.

Was ist für Sie die Hauptaussage des Films?

Ich war sehr nervös, bevor ich den Film zum ersten Mal gesehen habe. Das hängt auch mit dem Titel zusammen, der mir nicht gefällt. Wir hatten 35 Stunden Material mit spontanen Interviews. Und aus diesem Material kann man jede mögliche Person formen. Ich hatte Angst, dass etwas entstehen könnte, das nicht meiner Absicht entspricht. Schlussendlich war ich aber sehr erleichtert. Als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, ist mir ein Stein vom Herzen gefallen, weil er im Wesentlichen das wiedergibt, was ich auch gezeigt hätte.

Inwiefern fördert dieser Film das Verständnis für die Banken?

Ich möchte betonen, dass sich dieser Film nicht gegen die Bankenwelt richtet. Ich glaube nicht, dass eine Bande von Bankstern – ein Begriff, den ich übrigens hasse – vorhat, die Welt zu ruinieren. Vielmehr glaube ich, dass diese Leute dieselbe Motivation haben wie andere Berufstätige. Die Bankenwelt steuert zwangsläufig auf eine Katastrophe zu, aber dahinter steht keine Berechnung der Bankangestellten. Dieses Verständnis möchte ich im Film fördern.

Wie machen Sie das?

Der Film versucht zu beschreiben, was mit Menschen geschieht. Ich spreche sehr viel über mich und über die Verformung, die mit mir als Mensch passiert ist während dieser Zeit in der Bankenwelt. Wenn die Zuschauer über dieses Thema nachdenken, dann hilft das schon.

Der Film "Master of the Universe" ist ab Donnerstag, 28.11., in den Schweizer Kinos zu sehen. Er wurde am Filmfestival in Locarno mit dem Preis der Semaine de la critique ausgezeichnet.