cash: Die nächsten Eidgenössischen Wahlen am 18. Oktober finden etwa ein Dreivierteljahr nach der Aufhebung der Kurs-Untergrenze Euro-Franken statt. Wie prägt die wirtschaftliche Unsicherheit die politische Schweiz?

Mark Balsiger: Die Frankenstärke ist das Megathema des Wahljahres 2015. 2003 mit dem 'Jahrhundertsommer' war es der Klimawandel, 2007 die Frage über den Verbleib Christoph Blochers im Bundesrat und 2011 bis Mitte Sommer die Atomkatastrophe von Fukushima und die Energiepolitik.

Wem nützt das Thema Frankenstärke am ehesten?

Bis jetzt haben wir gesehen, dass es der FDP nützt. Wenn wirtschaftliche Themen im Vordergrund stehen, dann profitiert die Wirtschaftspartei - dieses Label hat die FDP noch immer, stärker als alle anderen Parteien. Deswegen hat die FDP in diesem Jahr bei allen kantonalen Wahlen zugelegt. Ich glaube nicht an einen 'Müller-Effekt' oder an die Früchte einer Neupositionierung. Der Erfolg hat mit der politischen Grosswetterlage zu tun - zugespitzt: Ökonomie statt Ökologie.

Das Wirtschaftsthema könnte aber geradesogut der Linken helfen…

… die SP könnte auch profitieren, aber erst in einer späteren Phase. Wenn die Arbeitslosigkeit deutlich steigt, werden soziale Fragen drängender. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg kann der SP durchaus wieder Zuwachs bescheren. Die Frankenstärke muss dazu aber sozial spürbar werden.

Die FDP hat wie gesagt Auftrieb bei den Kantonswahlen. Aber könnte sie nach den National- und Ständeratswahlen nicht eventuell enttäuscht sein?

Die FDP hat national seit 1983 nur verloren. Die jüngsten Erfolge geben der Partei aber Selbstvertrauen, Schwung und sie elektrisieren. Das kann den langjährigen Negativtrend stoppen. Man muss aber auch sehen: Die Wahlen in diesem Jahr fielen positiv aus für die FDP, aber sie hat davor in kantonalen Wahlen nicht weniger als 13 Mal verloren.

Auch die SVP will dazugewinnen. Das Aufgebot prominenter Quereinsteiger – Ems-Chefin Magdalena Martullo-Blocher und Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel – kann als Kalkül gewertet werden, mit grossen Namen Stimmen holen zu können. Aber es kann aus so gelesen werden: Die SVP muss bekannte Namen bringen, weil sonst mit dem altbekannten Personal die Anziehungskraft fehlt. Was trifft eher zu?

Die SVP wird gewählt wegen des 'Labels SVP', das zeigen Untersuchungen. Keine andere Partei profitiert so stark vom Programm, wie es vom Publikum wahrgenommen wird. Quereinsteiger in der Politik gab es indessen immer, und für jede Partei ist es dankbar, wenn sie prominente Namen auf die Liste setzen kann. Roger Köppel wird sicher gewählt, Martullo-Blocher kaum. Ihre Kandidatur ist aber ein 'Mediencoup': Innerhalb der ersten drei Tage nach Bekanntgabe der jeweiligen Kandidaturen hatten die beiden SVP-Quereinstiger gemäss der Mediendatenbank SMD je über 100 Notierungen, das ist gigantisch. Botschafter Tim Guldimann, der für die SP in Zürich kandidiert, wurde viel weniger wahrgenommen.

Spekuliert Frau Martullo-Blocher eher darauf, in einer späteren Wahl Erfolg zu haben?

Sie wird eine realistische Einschätzung gemacht haben: Es ist nicht sicher, dass die SVP neben dem bekannten und starken Nationalrat Heinz Brand in Graubünden einen zweiten Sitz holt. Martullo-Blocher hat Freude am Aufmischen, an der Provokation. Ihre Kandidatur ist ein Versuch.

Angesichts der bürgerlichen Erfolge im bisherigen Jahr wird schon von einem 'Rechtsrutsch' gesprochen. Wie ist so ein Begriff überhaupt einzuordnen?

Eine Mehrheit von FDP und SVP im Parlament  - als nicht nur im Nationalrat, sondern auch im Ständerat – kann man ausschliessen. Der Begriff Rechtsrutsch ist zu einem Kampfbegriff geworden: Die Linke warnt davor, bei den Bürgerlichen wird mehr von einem 'Schulterschluss' gesprochen.

Die so genannten Mitteparteien CVP, EVP, Grünliberale und BDP werden also weiter wichtig bleiben?

Die Mitte ist herausgefordert, sie ist fragmentiert, und sie ist in den letzten Jahren von den jungen Parteien BDP und Grünliberale aufgemischt worden. Die BDP hat ausser in den Kantonen Bern und Graubünden, wo es 2008 die grossen Zerwürfnisse mit der SVP gab, keine gefestigten Standorte.

Was bedeutet das?

Wenn bei einer jungen bürgerlichen Partei wie der BDP eine Negativspirale einsetzt, kann sie ambitionierten Mitgliedern keine Karrieremöglichkeiten mehr anbieten. Der Zulauf versiegt, und das ist das Damoklesschwert über der BDP. Der Zerfall der Partei könnte schon in diesem Herbst eingeläutet werden.

Aber für die nächste Legislatur wird die BDP Eveline Widmer-Schlumpf im Bundesrat halten können?

Wenn die BDP im Oktober Wähleranteile und Sitze verliert, könnte Bundesrätin Widmer-Schlumpf zum Schluss kommen, dass sie besser nicht mehr kandidiert. Ohne sie fehlt der Partei aber ihr bekanntester Kopf. Würde ihr Sitz frei, müsste wieder der alte Verteilschlüssel gelten: Die drei grössten Parteien haben zwei Sitze, die vierte einen – also auch zwei Sitze für die SVP. Diese müsste kooperieren und einen überparteilich akzeptierten Kandidaten aufbauen. Für viele Mitte-Links-Leute sind zwei SVP-Politiker im Bundesrat ein Horrorszenario.

Woran kranken die Grünen? Ist es allein der Fukushima-Effekt, der sich nicht wie 2011 auswirkt?

Seit der Entstehung in den 80er Jahren erleben die Grünen den Jo-Jo-Effekt. Für Oktober 2015 sieht es nach Verlusten aus. Die Partei hat sich aber etabliert und stellt in Städten und Kantonen Exekutivpolitiker.

Die SP dürfte ihren Stimmenanteil behalten. Steht einem stärkeren Wachstum nicht auch entgegen, dass die SP im Vergleich zu anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa relativ weit links steht?

Die SP ist im europäischen Vergleich tatsächlich weit links und fährt seit einigen Jahren auch einen pronocierten Linkskurs. Die Phasen der Öffnung zur Mitte und damit zu anderen Wählersegmenten sind vorbei. Sie hat  sich auch oft auch – durchaus mit gewissem Erfolg – als 'Anti-Blocher-Partei' angepriesen. Aber sie muss auch stärker betonen, wofür sie ist. Es ist fatal, dass sie sich zur Schicksalfrage Europa - Bilaterale Verträge - wenig äussert. Vielleicht hat sie Angst, in dieser Frage gegen die europakritische SVP zu verlieren.

Mark Balsiger hat in der Schweiz und in Grossbritannien Journalistik, Geschichte und Politikwissenschaften studiert und arbeitete früher als Redaktor für verschiedene Medien. Seit 2002 führt er in Bern eine Kommunikationsagentur. Balsiger hat drei Bücher über den Wahlkampf publiziert und ist zudem als Dozent tätig.