Wenn sich Thomas Jordan anschickt, in der Kantine im Gebäude der Schweizerischen Nationalbank (SNB) am Zürcher Bürkliplatz das Mittagessen einzunehmen, dann stellt er sich in die Reihe. Wie alle anderen SNB-Angestellten auch. Diese erinnern sich etwas ungern an das Verhalten von Philipp Hildebrand. Jordans Vorgänger im SNB-Präsidium liess die Schlange jeweils links liegen und drängte direkt zur Essensausgabe. "Jumping the queue", nennt man dies in England. Es gilt als unanständig.

Vorne reinpreschen, das geht nicht. Vielleicht bezeichnet sich Jordan auch deshalb als "typischen Schweizer". Seine Zurückhaltung und seine Genauigkeit, die manche Leute als Detailversessenheit und Pingeligkeit bezeichnen, passen insofern zu seiner Selbstbeurteilung. 

Jordans Nüchternheit kommt in der Fachwelt an. So soll ein Notenbanker sein. "Die unaufgeregte und sachliche Art" bezeichnet Thomas Gitzel, Chefökonom der VP Bank in Vaduz, als eine der Stärken von Thomas Jordan. Im gleichen Atemzug sagt Gitzel, Beobachter von Notenbanken weltweit, indes auch: "Die Bilanz von Jordan als SNB-Präsident fällt sicherlich gemischt aus."

Die Schweiz wollte wieder eine glaubwürdige SNB

Blick zurück: Als die damalige Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf am 18. April 2012 in Bern den neuen SNB-Präsidenten vorstellte, war Jordan interimistisch bereits seit vier Monaten im Amt. Der Zwei-Meter-Mann und frühere Wasserball-Nationalspieler, seit 2009 Vize-Präsident der SNB, beerbte Philipp Hildebrand, der über die Devisengeschäfte seiner Frau gestürzt war. Jordans Wahl kam einer Erleichterung gleich. Mehr als vier lange Monate nach dem Fall Hildebrand wollten Vertreter des Finanzplatzes und politische Parteien wieder eine glaubwürdige SNB - und einen Skandal weghaben, der ganz und gar nicht zum Land passte.

Doch schon beim Amtsantritt war klar: Die starke Landeswährung würde Jordans liebstes Sorgenkind bleiben. Der Franken, traditionelle Fluchtwährung in Zeiten von Marktturbulenzen, hatte sich im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise seit 2007 kontinuierlich aufgewertet. Nach dem europäischen Paniksommer 2011, als der Franken fast die Parität zum Euro erreichte, zogen Hildebrand und Jordan im Herbst des selben Jahres die Notbremse: Die Franken-Kursuntergrenze zum Euro von 1,20 war plötzlich Tatsache.

Diese behielt Jordan drei Jahre. Er verhinderte damit eine Rezession für die exportorientierte Schweizer Wirtschaft. "Jordan hat es geschafft, die Rahmenbedingungen für die Schweizer Wirtschaft trotz Eurokrise stabil und verlässlich zu halten", urteilt Thomas Stucki, Anlagechef der St. Galler Kantonalbank, der zwischen 1997 und 2006 in gleicher Funktion bei der Nationalbank tätig war. Als Erfolg wertet Gitzel von der VP Bank auch, dass Jordan die Immobilienrisiken mit der Beantragung des antizyklischen Kapitalpuffers beim Bundesrat gut aufgefangen habe. "Hier gebührt der Notenbank und Jordan Respekt."

Der legendäre 15. Januar 2015

Die Kursuntergrenze war indes ein Fremdkörper in Jordans geldpolitischem Weltbild, das vom Monetarismus geprägt ist. Schon Jordans Doktorarbeit aus dem Jahr 1993 setzte sich sehr kritisch mit einer europäischen Währungsunion auseinander. Die Quasi-Anbindung des Frankens an die Krisenwährung Euro war für Jordan schon bei der Einführung der Untergrenze eine "Faute-de-Mieux"-Lösung.

So kam, was eher früher denn später kommen musste: Der Knall am 15. Januar 2015 um 10:30 Uhr. Niemals zuvor erschütterte ein Ereignis "made in Switzerland" die Finanzmärkte weltweit so heftig wie die Aufhebung der Kursuntergrenze, welche die SNB salopp-unaufällig per Mediencommuniqué bekannt gab. Der in die Freiheit entlassene Franken sprang zum Euro von 1,20 zeitweise auf unter 90 Rappen, der Swiss Market Index verlor in zwei Handelstagen schier unglaubliche 15 Prozent. Ein Finanztsunami, der offenbar auch Thomas Jordan überraschte. Sichtlich angespannt erklärte Thomas Jordan am Nachmittag des 15. Januar den SNB-Entscheid den Medien - und gab anschliessend cash.ch ein Video-Interview:

Thomas Jordan im cash-Interview am 15. Januar 2015 (Quelle: cash.ch)

Die Schweiz war aufgewühlt. Für den ehemaligen Preisüberwacher und ex-Nationalrat Rudolf Strahm war die Glaubwürdigkeit von Thomas Jordan "irreversibel" dahin, die SNB sei unter dem Druck von Investoren zusammengebrochen, wie Strahm  damals gegenüber cash.ch festhielt. Applaus kam einzig von der Bankenwelt. Oswald Grübel, ex-CEO der UBS und der Credit Suisse, gratulierte der SNB sec.

Aus heutiger Sicht fällt das Urteil von Beobachtern milder aus: "Die Aufhebung der Kursuntergrenze war im Moment schmerzhaft, war aber der richtige Entscheid", sagt Stucki von der St. Galler Kantonalbank. "Dadurch hat die SNB mehr Flexibilität bei ihrer Frankensteuerung erhalten. Ihr Verhalten ist unberechenbarer geworden, was es gefährlicher macht, gegen die SNB zu spekulieren."

Die Folgen von Jordans Schocktherapie waren für die Schweizer Wirtschaft weit weniger verheerend als von den meisten Ökonomen und Konjunkturforschungsstellen befürchtet. Zwar leiden der Tourismus und Teile der Exportindustrie noch heute unter der massiven Aufwertung des Frankens. Exporteure mussten mit Preisnachlässen reagieren und verloren so im Ausland Marktanteile. Auch die Finanzindustrie sieht sich aufgrund der anhaltenden Negativzinsen von 0,75 Prozent - die andere Massnahme vom 15. Januar 2015 - mit konstanten und schmerzhaften Ertragseinbussen konfrontiert. Aber die befürchtete  Rezession - sie blieb nach dem 15. Januar aus. 

Die Schwächen offengelegt

Dennoch steht die Abschaffung der Kursuntergrenze exemplarisch für die Defizite von Führungsmann Jordan. Mit der Kommunikation hatte der oberste SNB-Mann schon einige Male vor dem Januar 2015 seine liebe Mühe. Ob die SNB einen besseren Zeitpunkt hätte aussuchen können für die Aufgabe des Mindestkurses, und ob die SNB-Direktoriumsmitglieder tatsächlich keine andere Wahl hatten als Tage vor der Aufgabe des Mindestkurses in die TV-Kameras zu lügen, ist umstritten.

Schwerer wiegt aber noch immer die zweifelhafte Begründung für das Aus der Mindestkurses. Die SNB-Behauptung, die Schweizer Firmen hätten genügend Zeit gehabt zur Umstellung auf eine Zeit ohne Untergrenze, war vor dem Hintergrund der jahrelangen und kontinuierlichen SNB-Zusicherung der Mindestkurses geradezu zynisch. Die Deflationsgefahr, einer der Hauptgründe für die Einführung des "Franken-Peg" im Jhr 2011, wurde dann bei der Aufhebung zudem mit keinem Wort mehr erwähnt – in einer Zeit der grössten Deflationsgefahr in Europa. Und schliesslich: Die SNB erklärte sich nicht mehr willens, grosse Summen zur Stützung der Mindestgrenze am Devisenmarkt auszugeben. Dabei war bereits am 15. Januar klar, dass die Notenbank dies auch in Zukunft in umfangreichem Ausmass würde tun müssen. 

Das sticht auch Thomas Gitzel von der VP Bank noch heute in die Nase: "Die unglückliche Kommunikation im Zuge der Aufhebung des Mindestwechselkurses hat am guten Image der SNB gekratzt." Er meint die Aussage Jordans von damals, der die geldpolitische Handlungsfähigkeit der SNB durch eine "unkontrollierbare Bilanzausdehnung" beeinträchtigt sah.

Doch genau das trat zumindest ansatzweise ein. Die Devisenmarktinterventionen führten in den letzten zwei Jahren zu einer weiteren massiven Aufblähung der SNB-Bilanz und erreicht heute den Stand von über 700 Milliarden Franken. Die Bilanzsumme war 2016 erstmals grösser als die gesamte Wirtschaftsleistung (BIP) der Schweiz. Das Verhältnis ist weltweit einmalig unter Notenbanken.

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Damit nimmt das Verlustrisiko der Nationalbank massiv zu, denn die Währungen sind in Aktien und anderen Wertpapieren angelegt. Fallen der Euro, Dollar oder Gold um etwa 15 Prozent, müsste die SNB einen Verlust von fast 100 Milliarden Franken in Kauf nehmen. Die steigende Bilanzsumme und die starken Schwankungen in den SNB-Halbjahres- und Jahresresultaten beunruhigen die Politik und lassen somit mehr und mehr Zweifel an der Handlungsfähigkeit von Thomas Jordan und Co. aufkommen.

"Die laufenden Interventionen gegenüber dem Euro sind aufgrund der steigenden Bilanzsumme der SNB gemessen am BIP nicht nachhaltig", kritisiert Gitzel. Eine Strategie und effektive Marktkommunikation liessen weiter auf sich warten. Und Stucki von der St. Galler Kantonalbank ist überzeugt: "Der Anstieg der Devisenreserven kann nicht unbegrenzt fortgesetzt werden."

Bleibt das Mittel der Negativzinsen als Alternative zur Schwächung des Frankens. Doch auch hier ist der Spielraum begrenzt. Die Zinsen belasten Schweizer Banken, Versicherungen, Pensionskassen und werden auch unter Sparern immer mehr ein Thema. Eine Ausweitung der Negativzinsen auf 1 oder sogar 1,25 Prozent kommt somit nur bei deutlichen Verwerfungen an den Märkten oder einer klaren Verschärfung der Lage im Euroraum in Frage.

Was bleibt als Fazit?

Es bleibt als nüchternes Fazit: "Der Franken hat sich trotz Negativzinsen und stetigen Interventionen nicht abgeschwächt", sagt Stucki zur Ära Jordan. Die SNB sei nie aus dem Krisen-Modus heraus gekommen und sei auch acht Jahre nach der Finanzkrise nicht in der Lage, eine geordnete Zins- und Geldpolitik zu führen. "Gekoppelt mit einer anhaltenden Stärke des Frankens wird sich die SNB entscheiden müssen, ob und in welcher Form sie eine Aufwertung des Frankens zulassen will." Deutlicher wird Gitzel von der VP Bank. Für ihn ist die Wechselkurspolitik von Jordan nicht nachhaltig. "Er muss klarmachen, dass sich die SNB nicht dauerhaft gegen eine Aufwertung des Frankens stellen kann."

An Jordans weitere Aufgaben, zum Beispiel die Wiederherstellung eines normalen Zinsumfeldes, mag man jetzt noch gar nicht denken. Der starke Franken wird sein liebstes Sorgenkind bleiben. Jordan ist quasi Gefangener einer Landeswährung. Und man muss sich fragen, ob sich dies auch langfristig ändern wird. Eine permanent gefragte und dauerhaft überbewertete Währung ist der Preis dafür, den ein kleines, wirtschaftlich kräftiges und stabiles Land zu bezahlen hat.