Selbst nachdem die Zentralbanken ihre letztjährige Falscheinschätzung zur Inflation eingesehen haben, bleibt der geldpolitische Fahrplan fehleranfällig. Dies schadet nicht nur ihrer Glaubwürdigkeit noch mehr, sondern setzt den Märkten wiederholt zu und untergräbt die Wirtschaftserholung. 

Die US-Notenbank Fed wird wohl die Zinsen am Mittwoch um 75 Basispunkte anheben. Dies kommt nur wenige Wochen, nachdem Fed-Chef Jerome Powell und sein Team wiederholt eine Erhöhung um einen halben Prozentpunkt angekündigt haben. 

Es ist der letzte in einer Reihe von Fehltritten der US-Notenbanker: Diese reichen von der Einstufung der hohen Inflation als "vorübergehend" im letzten Jahr über die Beschleunigung des Endes des Anleihekaufprogramms bis hin zur beschleunigten Auflösung des Anleiheportfolios. Auch Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank EZB, hat in letzter Zeit eine restriktivere Haltung eingenommen, als sie zuvor noch angedeutet hatte.

Prognosefehler erhöhen das Risiko einer Wirtschaftsrezession

Anlegerinnen und Anleger sind weltweit zunehmend besorgt, dass der Wettlauf um die Wiedergutmachung früherer Prognosefehler das Risiko einer Wirtschaftsrezession erhöht. Die weltweiten Aktienmärkte sind bereits in einen Bärenmarkt eingetreten, die Renditen der US-Staatsanleihen verzeichneten am Montag den grössten zweitägigen Anstieg seit den 1980er Jahren, und die Kreditmärkte zeigen Anzeichen einer zunehmenden Anspannung. 

Der EZB-Rat wird am Mittwoch eine Ad-hoc-Sitzung abhalten, "um die aktuelle Marktlage zu erörtern". Die Ankündigung erfolgt, nachdem die Rendite der 10- jährigen Anleihen Italiens in dieser Woche zum ersten Mal seit 2014 über 4 Prozent gestiegen ist. Dies deutet darauf hin, dass die Anleger nicht davon überzeugt sind, dass die EZB die Zinsen erhöhen und gleichzeitig die Anleiherenditen der schwächsten Mitglieder der Region in Schach halten kann.

Unterdessen eskaliert die Auseinandersetzung zwischen Anleihehändlern und der Bank of Japan zusehends. Die japanische Zentralbank kämpft darum, die Märkte davon zu überzeugen, dass ihre ultralockere Geldpolitik nachhaltig ist. Die Futures für zehnjährige  japanische Staatsanleihen fielen am Mittwoch so stark wie seit 2013 nicht mehr.

Vertrauensverlust macht noch mehr Massnahmen erforderlich

Die Fehler der Währungshüter trüben den Ruf, für Preisstabilität zu sorgen und eine Inflationsspirale zu verhindern, wie sie in den 1970er Jahren die Einkommen der Mittelschicht belastete. Der Verlust an Glaubwürdigkeit bedeutet, dass möglicherweise noch mehr geldpolitische Massnahmen erforderlich sind, um den Preisdruck zu entschärfen.

"Die Zentralbanken befinden sich in einem Dilemma", sagte Sayuri Shirai, ehemaliges Vorstandsmitglied der Bank of Japan und heute Professorin an der Universität Keio. "Um das Vertrauen wiederherzustellen, müssen die Zentralbanken die Leitzinsen ausreichend anheben, um die Inflation zu senken, was zu einer weiteren Verlangsamung der wirtschaftlichen Erholung führen könnte", sagte sie. 

Der Glaube der Haushalte und Unternehmen, dass die Zentralbanken ihre Inflationsziele im Laufe der Zeit erreichen werden, trägt entscheidend dazu bei, den Preisdruck zu dämpfen. Die Haushalte könnten sich mit einigen Anschaffungen zurückhalten, da sie darauf vertrauen, dass die Preise mit der Zeit sinken werden. Und bei den Arbeitnehmern ist es weniger wahrscheinlich, dass sie Forderungen nach einem Lebenshaltungskostenausgleich in die Lohnverhandlungen einbeziehen. 

Inflationserwartung passt nicht in das Narrativ der Zentralbanken

Die politischen Entscheidungsträger betonten bis vor kurzem, dass sich die langfristigen Inflationserwartungen in Grenzen hielten. Der Präsident der Federal Reserve Bank of Chicago, Charles Evans, erklärte im März, dass die heutige Inflation nicht mit der der 1980er Jahre vergleichbar sei. Dies, weil eine "übermässig lockere Geldpolitik" in den 1960er und 1970er Jahren zu einem Anstieg der langfristigen Inflationserwartungen beigetragen habe. 

Der am Freitag von der University of Michigan veröffentlichte Indikator für die längerfristigen Preiserwartungen zeigte einen deutlichen Riss in diesem Narrativ und stieg auf den höchsten Stand seit dem Ölpreisanstieg 2008. 

Man kann der Fed, der EZB und ihren Kollegen zwar nicht vorwerfen, dass sie den Preisanstieg infolge der russischen Invasion in der Ukraine oder die Dauer der globalen Lieferkettenprobleme nicht vorausgesehen haben. Dennoch scheint die fortgesetzte Ausweitung ihrer Bilanzen im Jahr 2021 und die Beibehaltung der Zinssätze nahe der Nulllinie, selbst als die Inflation in die Höhe schoss und sich die Volkswirtschaften von den Tiefen der Covid-19-Krise erholten, dazu beigetragen zu haben, die Saat für die aktuellen Turbulenzen zu legen, so die Kritiker.

"Ich glaube, dass wird der Glaubwürdigkeit der Zentralbanken einen verheerenden Schlag versetzen - wenn die Anleger erkennen, dass die Inflation, mit der wir konfrontiert sind, 'menschengemacht' ist und die Zentralbanken dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben", sagte Stephen Jen, der den Hedgefonds Eurizon SLJ Capital in London leitet. 

Powell brauchte bis November, um die Beschreibung der Inflation als "vorübergehend" zurückzunehmen, und räumte letzten Monat ein, dass es "rückblickend wahrscheinlich besser gewesen wäre, die Zinsen früher anzuheben". 

Schätzungen der Fed fehleranfällig

Der ehemalige Finanzminister Lawrence Summers, seit Anfang 2021 ein ständiger Kritiker der Fed, bezeichnete die Inflationserwartungen der US-Zentralbank vom März als "wahnhaft, wenn sie veröffentlicht werden". Der von der Fed bevorzugte Preisindex stieg im April um 6,3 Prozent auf Jahresbasis. Der Median der Schätzungen der Fed-Beamten im März lag bei 4,3 Prozent für 2022. Neue Prognosen sind am Mittwoch fällig. 

Die USA sind nicht die Einzigen, die mit einem Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen haben. EZB-Präsidentin Lagarde und ihre Kollegen sind nun auf dem besten Weg, die Zinsen im Juli um einen Viertelpunkt und im September um 50 Basispunkte anzuheben. Und das, nachdem Lagarde im Dezember gesagt hatte, es sei unwahrscheinlich, dass es in diesem Jahr zu einer Zinserhöhung komme. 

"Alle internationalen Institutionen, alle renommierten Prognostiker haben den gleichen Fehler gemacht", indem sie die Krise unterschätzt haben, sagte Lagarde letzte Woche. Der australische Notenbankchef Philip Lowe bezeichnete es im Mai als "peinlich", dass sich seine frühere Prognose, die Zinsen würden bis 2024 auf einem Rekordtief bleiben, als so falsch erwiesen habe. 

Bei den Schwellenländern ergibt sich ein gemischtes Bild. Einige, wie Brasilien, haben die Zinssätze viel schneller angehoben als die Industrieländer. China hat sich stattdessen darauf konzentriert, inmitten einer wirtschaftlichen Abschwächung geldpolitische Unterstützung zu bieten. In Indien wies die Zentralbank noch im April Behauptungen zurück, sie sei zu spät dran, um dann zwei Monate in Folge den Leitzins zu erhöhen. In der Zwischenzeit bleibt die Inflation weit ausserhalb ihres Toleranzbereichs. 

Öffentlichkeit hinterfrägt die Rolle der Zentralbanken zunehmend

Viele Umfragen deuten auf einen Vertrauensverlust der Zentralbanken bei der Öffentlichkeit hin:

  • Eine im Mai veröffentlichte Gallup-Umfrage ergab, dass nur 43 Prozent der Befragten "sehr viel" oder "ziemlich viel" Vertrauen darin haben, dass US-Notenbankchef Powell das Richtige für die US-Wirtschaft tun wird. Dies ist zwar nicht der niedrigste Wert unter den jüngsten Fed-Chefs, liegt aber deutlich unter den 74 Prozent, die Alan Greenspan in den frühen 2000er Jahren erhielt. 
  • Zum ersten Mal in der Geschichte waren mehr Menschen mit der Leistung der Bank of England bei der Preiskontrolle unzufrieden als zufrieden, wie eine vierteljährliche Umfrage ergab. 
  • Der japanische Notenbankchef Haruhiko Kuroda musste einen Popularitätseinbruch hinnehmen, nachdem er gesagt hatte, dass die Verbraucher gegenüber steigenden Preisen toleranter werden. Eine am Montag veröffentlichte Umfrage von Kyodo News ergab, dass 59 Prozent der Befragten ihn für ungeeignet für sein Amt halten.

Börsen-Legende Stanley Druckenmiller, der das Duquesne Family Office leitet, warnte diesen Monat, dass die Politik der Zentralbank vor einem Jahr völlig unangemessen war und es unvermeidlich ist, dass die Anleger Geld verlieren werden. "Wenn man eine sanfte Landung vorhersagt, widerspricht das der Geschichte", sagte Druckenmiller, 68, der mehr als ein Jahrzehnt lang Gelder für den Milliardär George Soros verwaltete.

(Bloomberg/cash)