Eine Mehrheit der rund 600 Delegierten gab beim Sonderparteitag am Sonntag in Bonn nach mehrstündiger kontroverser Debatte grünes Licht für eine entsprechende Empfehlung der Parteispitze: Für Verhandlungen stimmten aber nur rund 56 Prozent. Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel kündigte rasche Koalitionsverhandlungen mit dem Ziel einer stabilen Regierung an. Zu den SPD-Nachforderungen sagte sie nur, dass das Sondierungsergebnis der "Rahmen" für Gespräche sei, in denen noch etliche Fragen "im Detail" zu klären seien.

Das Votum des SPD-Parteitags war in Deutschland und Europa mit Spannung erwartet worden. SPD-Chef Martin Schulz warb bei den Delegierten in einer fast einstündigen Rede um Vertrauen und verwies auch auf die EU-Verantwortung seiner Partei. Kurz vor der Abstimmung ergriff er erneut das Wort und sprach von einem Schlüsselmoment in der jüngeren Geschichte der SPD. "Man muss nicht um jeden Preis regieren, aber man darf auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen", mahnte er.

In einem ZDF-Interview liess er später offen, ob er in ein Kabinett unter Merkel eintreten wird: "Die Personalfragen werden sicher am Ende diskutiert", sagte er.

Gespräche bis Anfang Februar

Die Koalitionsverhandlungen sollen möglicherweise bereits am Montag beginnen. Dann wollen CDU und CSU auf jeden Fall ihre Positionen abstimmen. Die Union hat bereits die Erwartung geäussert, dass die Gespräche bis Anfang Februar abgeschlossen werden könnten. Unionsfraktionschef Volker Kauder sagte dem ZDF, er hoffe auf eine neue Regierung bis Anfang März.

Bei einem Nein der Delegierten wären wohl Neuwahlen die Folge und Schulz wäre massiv beschädigt gewesen, aber auch die übrige Parteispitze hatte um Zustimmung geworben. Eine "Groko" ist gleichwohl weiter keine ausgemachte Sache, denn am Ende von Verhandlungen sollen die SPD-Mitglieder bei einer Abstimmung das letzte Wort haben.

Vor gut einer Woche hatten sich CDU/CSU und Sozialdemokraten auf ein Sondierungspapier geeinigt, das die Grundlage für die Verhandlungen bilden soll. In der SPD wurden wie schon in den vergangenen Tagen auch beim Parteitag aber grosse Vorbehalte gegen die Neuauflage des schwarz-roten Bündnisses deutlich. Vor allem die Jusos machten Front gegen die "Groko".

Neue SPD-Anträge

Abgestimmt wurde über einen ergänzten Leitantrag, in dem in drei Bereichen "konkret wirksame Verbesserungen" gegenüber dem Ergebnis der Sondierungen mit der Union gefordert werden. So sollen befristete Arbeitsverhältnisse die Ausnahme sein. Ausserdem soll "das Ende der Zwei-Klassen-Medizin" eingeleitet werden. Des weiteren wird eine "weitergehende Härtefallregelung" für den Familiennachzug von Flüchtlingen gefordert. Schulz sagte zu, sich in diesen Feldern für Verbesserungen im Sinne seiner Partei einzusetzen. "Die Härtefallregelung wird kommen", versprach er. Zugleich widersprach er Äusserungen aus der Union, in den Sondierungen sei eine Obergrenze für Flüchtlinge vereinbart worden.

In der Union gab man sich betont gelassen. CDU-Vize Volker Bouffier unterstrich, das Ergebnis der Sondierungsgespräche gelte. Die Kernpunkte dürften nicht mehr infrage gestellt werden. Das CSU-Präsidium lehne Nachverhandlungen über die Sondierungsergebnisse einhellig ab, erklärte auch Partei-Chef Horst Seehofer in München: "Wenn jetzt jede Partei beginnt, Themen aufzulisten, über die noch nachverhandelt werden muss, dann wird die Sache schwer gefährdet." "Wir sind jedenfalls nicht diejenigen, die das Paket aufschnüren", sagte auch der geschäftsführende Finanzminister Peter Altmaier der ARD. Er ging von harten Verhandlungen aus.

Die Wirtschaft reagiert mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer erklärte: "Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung." Eine grosse Koalition müsse nun Antwort auf die Frage geben, wie Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit weiterentwickeln werde. Sein Kollege vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK), Eric Schweitzer, schränkte ein: "Aus Sicht der Wirtschaft ist das Votum auf der Wegstrecke ein durchwachsenes Signal." Auch der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf, zeigte sich skeptisch: Das SPD-Votum stelle neue hohe Hürden für erfolgreiche Verhandlungen auf. "Der Preis droht noch höher auszufallen, als ohnehin befürchtet."

Schulz und Nahles kämpften

In seiner Rede hatte Schulz massiv für das Sondierungspapier geworben, in dem "sehr viel sozialdemokratische Politik durchgesetzt worden" sei. Die SPD habe die Chance, Europa neu zu gestalten und mehr soziale Gerechtigkeit nicht nur in Deutschland, sondern auf dem gesamten Kontinent herzustellen. "In meinen Augen wäre es fahrlässig, diese Chance jetzt nicht zu ergreifen." Es lohne sich, beharrlich für "Erneuerung, Zusammenhalt und Vertrauen" zu streiten und am Ende den 440.000 Mitgliedern die endgültige Entscheidung zu überlassen. Für ein Ja zu Koalitionsverhandlungen warf sich auch Fraktionschefin Andrea Nahles in die Bresche. Sie kündigte an: "Wir werden verhandeln bis es quietscht auf der anderen Seite."

Aber auch "Groko"-Gegner erhielten für ihre Beiträge stets lautstarken Applaus. Juso-Chef Kevin Kühnert warb für einen Neuanfang in der Opposition. "Und das heisst heute: einmal ein Zwerg sein, um zukünftig vielleicht wieder Riesen sein zu können." Die Auffassung, "eigentlich wollen wir ja nicht, aber wir müssen doch", führe in eine "Endlosschleife, in der wir seit so vielen Jahren drin sind". Auch die Parteilinke Hilde Mattheis warnte: "Wir gehen aus jeder grossen Koalition schwächer raus."

Harsche Kritik kam von den Grünen und der Linkspartei. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte, das knappe Ergebnis des SPD-Parteitags zeige, dass das Sondierungsergebnis hinten und vorne nicht ausreiche. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sprach von einem "historischen Fehler". Die SPD habe mit dem heutigen Tag die Arbeit am "Projekt 15 Prozent" begonnen.

(Reuters)