In etlichen osteuropäischen Hauptstädten schrillten die Alarmglocken, dass Berlin und Paris gegenüber Russland zu nachgiebig werden könnten. Britische Zeitungen sprachen von einem "Reset" in den europäisch-russischen Beziehungen. "Das hat Deutschland in der EU geschadet und uns transatlantisch nicht geholfen", sagt Jana Puglierin, Europa-Expertin des European Council on Foreign Relations (ECFR) zu Reuters. Doch Merkel will ihre Pläne nicht aufgeben: Alle sollten an einen Tisch. "Viele sprechen bilateral mit Russland. Ich kann da keinen Vorteil sehen", erläuterte die Kanzlerin.

Grünen-Aussenpolitiker Omid Nouripour kritisiert den Vorschlag als unsensibel: "Die EU als Garant unseres Wohlstands und unseres Friedens kann man nicht zusammenhalten, wenn man die Sorgen unserer Partner vor Russland nicht ernst nimmt." Der CDU-Aussenpolitiker Jürgen Hardt sieht dies ganz anders. "Die Politik gegenüber Russland sieht bei aller notwendigen Härte immer auch das Offenhalten von Gesprächskanälen vor", sagte er zu Reuters. "Deshalb ist die EU-Gipfel-Initiative richtig und passt zur Politik des US-Präsidenten." Immerhin sei Europa in besonderer Weise von aggressiver russischer Politik betroffen. Allerdings mahnt auch er, dass Berlin und Paris sensibler vorgehen sollten. "Die EU-Spitze und die Regierungschefs von Frankreich und Deutschland müssen jetzt alles daran setzen, in der EU für konkrete Schritte Konsens zu erzielen", sagte Hardt.

Merkel selbst fühlt sich sichtlich völlig missverstanden. Gerade erst hatte sie bei den Gipfeln der grossen westlichen G7-Staaten und der Nato-Länder eine sehr deutliche Sprache gegen Russland mit unterschrieben. Moskau werden ja nicht nur die Destabilisierung der Ukraine und ein immer härterer innenpolitischer Kurs, sondern auch systematische Cyberangriffe gegen westliche Demokratien vorgeworfen. Merkel und Macron hatten deshalb sogar eine Verschärfung des EU-Sanktionsregimes vorgeschlagen, die sich in der Gipfelerklärung wiederfindet. In der Brüsseler Aufregung ging das fast unter.

EU soll Souveränität zeigen

Nur waren Kanzlerin und Frankreichs Präsident bei ihren geopolitischen Beratungen im Kanzleramt voriger Woche zu dem Schluss gekommen, dass man direkte Gespräche mit Putin nicht nur US-Präsident Joe Biden überlassen dürfe. Wenn man schon so viel von EU-Souveränität rede, müsse man "Manns und Frau genug sein", die eigenen Interessen auch selbst gegenüber dem Kreml zu vertreten, erläuterte Merkel ihre Position am Freitag. Die EU leide doch seit Jahren darunter, dass die 27 Staaten sowohl gegenüber China als auch Russland mit unterschiedlichen Positionen aufträten. Deshalb hatte sie in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auch einen ebenfalls umstrittenen vollen EU-China-Gipfel durchgeboxt - der dann allerdings pandemiebedingt wieder abgesagt werden musste.

Selbst im Kalten Krieg habe man schliesslich mit den Sowjets auf höchster Ebene gesprochen, betont Merkel. Die Frage sei jetzt alleine, ob die EU, die sich so gerne als mächtiger Faktor in der Weltpolitik sieht, dies nicht auch tun wolle, hiess es in Regierungskreisen. Immerhin gab es früher ein solches EU-Russland-Format, zuletzt 2007 im finnischen Turku. Niemand sei auf die Idee gekommen, bei dem Treffen Biden-Putin von einer "Belohnung" für den russischen Präsidenten zu sprechen. Zuvor hatte Litauens Präsident Gitanas Nauseda gesagt, ein Treffen ohne Vorbedingungen sei angesichts des russischen Verhaltens "ein sehr falsches Signal".

Zwar ist das Misstrauen der osteuropäischen EU-Partner gegenüber Russland nicht neu. Aber Grünen-Politiker Nouripour wirft der Bundesregierung vor, die Debatte selbst in eine Richtung getrieben zu haben, die reflexhafte Ängste auslöst. "Die Bundesregierung hat mit dem rücksichtslosen Vorantreiben von Nord Stream 2 viel Vertrauen verspielt in Warschau, Vilnius, Riga oder Tallinn", sagte er mit Hinweis auf das von Berlin unterstützte Pipeline-Projekt. Initiativen aus Berlin würden deshalb immer misstrauisch gesehen. "Dass Macron diesen Dialog gut findet, ist ja nichts Neues. Aber dass Deutschland mitmacht und ohne Not unabgesprochen mit anderen Partnern zu einem schwierigen Zeitpunkt vorprescht, fand ich kontraproduktiv", meint auch ECFR-Expertin Puglierin.

Ein deutscher Diplomat verweist auf den paradoxen Effekt der Debatte in der EU: Wenn es keinen EU-Russland-Gipfel gebe, würden grosse Länder wie Deutschland eben weiter ihren bilateralen Kanäle zu Putin pflegen müssen. "Dieser redet ohnehin lieber mit Einzelstaaten als mit der EU", sagt er.

(Reuters)