Nach aussen dominieren bei Russlands Präsident Wladimir Putin öffentliche Wutausbrüche gegenüber der Nato und Kriegswarnungen an den Westen. Aber nach Ansicht etlicher Beobachter gibt es seit einigen Tagen vorsichtige Anzeichen, dass der russische Präsident Wladimir Putin bestrebt ist, eine Eskalation der Ukraine-Krise zu vermeiden. Ein Signal kam von Putin selbst in seiner Kreml-Pressekonferenz am Dienstag: Dort warnte er zwar zum zweiten Mal innerhalb einer Woche vor den Folgen eines ukrainischen Nato-Beitritts. Die europäischen Länder würden automatisch in einen Krieg mit Russland hineingezogen, in dem es "keine Gewinner geben wird". Aber er sagte eben auch, der Dialog sei noch nicht beendet. Einige Vorschläge der USA und der Nato seien diskussionswürdig, Russland werde "alles tun, um Kompromisse zu finden, die für alle passen".
Zudem berichten westliche Diplomaten von ihren Treffen mit russischen Amtskollegen, dass man sich in den verschiedenen Formaten des Nato-Russland-Rats, der OSZE oder im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) zwar gegenseitige Vorwürfe an den Kopf werfe - aber man rede nach langer Zeit zumindest wieder. Das würden die Russen nicht tun, wenn sie wirklich auf einem Eskalationspfad seien, so die Vermutungen.
Am Dienstag sagte dann auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach seinem Besuch in Moskau, Putin habe ihm versichert, dass eine Eskalation nicht von ihm ausgehen werde. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte schon am Sonntag vor seinem Abflug nach Washington überraschend darauf verwiesen, dass er Fortschritte in der Krisendiplomatie um die Ukraine-Krise sehe.
Auch zwei in Moskau ansässige Analysten, die sich auf die Entschlüsselung der Signale aus dem Kreml spezialisiert haben, sagten, Putins nächtliche Kommentare nach stundenlangen Gesprächen mit dem französischen Präsidenten deuteten darauf hin, dass er die Verhandlungen ernst meine. "Natürlich hält er an seinen Positionen fest, aber ich habe nicht den Eindruck, dass er in Stimmung für eine Eskalation ist", sagte Andrey Kortunov, Vorsitzender des russischen Rates für internationale Angelegenheiten. "Wahrscheinlich würden Sie nicht sieben Stunden lang mit einem Gegner sprechen, wenn Sie ihm nur einen Vortrag halten und die Akte schliessen wollten."
Dazu passt, dass europäische Sicherheitskreise in ihrer Einschätzung leicht von der US-Seite abweichen. US-Politiker hatten schon im Dezember gewarnt, dass ein russischer Angriff unmittelbar bevorstehe. Zwar hat Putin das russische Militär an der Grenze zur Ukraine weiter verstärkt. Aber in Westeuropa hält man es nach Angaben von Experten für wahrscheinlicher, dass das riesige Militäraufgebot vor allem dazu dient, einen politischen Preis einzufordern. Der künftige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, hatte darauf verwiesen, dass Putin mit einem Kurs des "populistischen Nationalismus" innenpolitisch punkten wolle.. Putin könnte theoretisch losschlagen - aber wahrscheinlicher sei, dass er vor allem die Drohkulisse brauche, hiess es in europäischen Sicherheitskreisen.
Welcher Preis für eine Deeskalation?
Putin nannte seine Kernforderungen: keine weitere Erweiterung der Nato, keine Raketenstationierung in der Nähe der russischen Grenzen und eine Reduzierung der militärischen Infrastruktur der Nato in Europa auf das Niveau von 1997. Er beschwerte sich, dass die USA und die Nato in ihren Antworten vom 26. Januar diese Fragen "umgangen" hätten.
Die USA und die Bundesregierung haben betont, dass die Nato die Tür für neue Mitglieder nicht schliessen wird. Aber die US-Antwort, die der Zeitung "El Pais" zugespielt wurde, enthielt Angebote, um spezifische russische Bedenken auszuräumen. Es hiess, Washington sei bereit, ein Abkommen über die Nichtstationierung von Raketen und Kampftruppen in der Ukraine zu erörtern und einen "Transparenzmechanismus" auszuhandeln, um zu bestätigen, dass die USA keine Tomahawk-Marschflugkörper an Raketenabwehrstandorten in Polen und Rumänien stationiert haben.
Die Aufnahme eines Rüstungskontrolldialogs mit Washington könnte daher in Putins Interesse liegen. "Wenn es ernsthafte Verhandlungen über Rüstungskontrolle in Europa gibt, können diese Verhandlungen verhindern, dass die Nato-Infrastruktur näher an die russischen Grenzen heranrückt", sagte Kortunov. Um Russland Ängste zu nehmen und gleichzeitig prinzipientreu zu bleiben, betonen westliche Politiker derzeit auffallend häufig, dass ein ukrainischer Nato-Beitritt in den kommenden Jahren gar nicht auf der Agenda stehe.
Fjodor Lukyanov, Chefredakteur der Zeitschrift "Russia in Global Affairs", verwies darauf, dass Putin als Preis für eine Deeskalation auch darauf pochen könnte, den von Russland unterstützte Separatisten in der Ukraine einen besonderen Verfassungsstatus zu verleihen. Je nachdem, wie dieser Sonderstatus definiert wird, könnte er die Nato-Ambitionen der Ukraine bremsen. Moskau könnte fordern, dass den beiden von den prorussischen Separatisten kontrollierten Regionen in der Ostukraine freigestellt wird, ihre eigenen Sicherheitsvereinbarungen mit Moskau abzuschliessen – was die Regierung in Kiew allerdings strikt verweigern würde. Aber wenn "Konturen eines neuen Deals entstehen könnten", würde dies für weitere Gespräche und nicht für Krieg sprechen. "Ich bin optimistisch, aber gleichzeitig sehr vorsichtig", sagte er.
(Reuters)