Jahrelang wurden Exporte nach China forciert und Energieverbindungen zu Russland ausgebaut. Daraus ergibt sich nun ein hässliche Mischung von Risiken. Die starke Abhängigkeit von der verarbeitenden Industrie macht Deutschland anfälliger für Unterbrechungen russischer Energielieferungen und Engpässen im Handel als andere europäische Länder. Dies schürt sowohl das Rezessionsrisiko als auch die Aussicht auf noch höhere Preise, welche den ohnehin schon verunsicherter Verbrauchern weiter zusetzen würden.

"Deutschland befindet sich in einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage", sagte Aline Schuiling, Senior Economist bei ABN Amro. "Die Sorgen über die Aussichten sind durchaus berechtigt."

Schuiling erwartet, dass die Wirtschaftskraft Deutschlands im zweiten Quartal schrumpfen wird. Während Ökonomen der Merrill Lynch und der Banco Santander ihre Meinung teilen, geht der Bloomberg-Konsens weiterhin von 0,4 Prozent Wachstum aus.

Einzig Estland langsamer als Deutschland

Die Europäische Kommission geht davon aus, dass einzig Estland in diesem Jahr noch langsamer als Deutschland wachsen wird - aufgrund ähnlicher Gründe, aber einer grösseren Nähe zu Russland -, während die Inflation in beiden Ländern voraussichtlich stärker sein wird als der Durchschnitt der 19 Länder der Eurozone.

Die Belastung zeigt sich im Rückgrat der deutschen Wirtschaft: 77 Prozent der Hersteller beklagen, dass Engpässe bei Material und Gerät ihre Geschäfte beeinträchtigen - mehr als irgendwo sonst in Europa. Der Verband der Maschinenbauer hat seine Prognose für das Produktionswachstum jüngst von 4 Prozent auf nur noch 1 Prozent gesenkt. 

Zusätzlich zu den Kopfschmerzen in der Industrie werden viele Deutsche diesen Sommer wahrscheinlich Geld ins Ausland tragen: Der Wunsch nach Sonne und Mittelmeer wird nach zwei Jahren Pandemie für viele wieder wahr. Die Einzelhändler daheim spüren den Druck bereits - die Umsätze im April sind so stark gesunken wie seit einem Jahr nicht mehr.

Deutschland hat geopolitische Risiken ignoriert

Die Probleme rühren daher, dass Deutschland geopolitische Risiken ignoriert hat, um seine verarbeitende Industrie zu stärken, was - zusammen mit weitreichenden Arbeitsreformen - dazu beigetragen hat, das Land Anfang der 2000er Jahre aus der Krise zu führen. Sowohl die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch ihr Vorgänger Gerhard Schröder verstärkten die Abhängigkeit des Landes von billiger Energie aus Russland und ermutigten Unternehmen, Geschäfte in China zu tätigen.

"Das hat Deutschland zur leistungsstärksten Volkswirtschaft in Europa gemacht, aber jetzt ist ein hoher Preis zu zahlen", sagte der Milliardär Georg Soros letzte Woche auf dem Weltwirtschaftsforum. 

Bundeskanzler Olaf Scholz schien die Bedenken anzuerkennen und sagte, dass "einige Leute in der Vergangenheit etwas unvorsichtig waren". Deutschland müsse nun dringend seine Lieferketten und Exportmärkte diversifizieren, sagte er in Davos.

"Viele Unternehmen müssen sich dem stellen", so Scholz. "Sie haben oft gegen das verstossen, was sie zu Beginn ihres Studiums gelernt haben: nicht alles auf eine Karte setzen."

Die erste Asienreise seit seinem Amtsantritt führte Scholz nach Japan, ausserdem empfing er den indischen Premierminister Narendra Modi in Berlin. China hat er noch nicht besucht, dafür aber die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in dem Land verschärft. Seine Regierung hat auch Gespräche mit Katar geführt in dem Bemühen, russisches Gas zu ersetzen.

China-Lockerungen geben Hoffnung

Trotz der trüben Aussichten gibt es Hoffnung. Die Lockerung der pandemischen Abriegelungen in Peking und Schanghai könnte die Nachfrage nach deutschen Waren ankurbeln und einige Engpässe in den Lieferkette beseitigen.

Automobilhersteller, darunter die Daimler Truck, der weltgrösste Hersteller von Nutzfahrzeugen, erwarten, dass die immer noch andauernde Knappheit bei Microchips in diesem Quartal ein geringeres Problem darstellen und sich in der zweiten Jahreshälfte deutlich verbessern wird.

Nach Ansicht von Bundesbankpräsident Joachim Nagel hält sich die deutsche Wirtschaft gut, und das Bruttoinlandsprodukt könnte in diesem Jahr doch noch um 2 Prozent steigen.

Inflation setzt Konsumenten zu

Die Konsumentenseite wird sich aufgrund der steigenden Inflation womöglich als weniger widerstandsfähig erweisen. Laut einer Studie der Allianz müssen die Haushalte in diesem Jahr mit zusätzlichen Ausgaben für Lebensmittel in Höhe von mehr als 250 Euro pro Person rechnen.

Da die Lebenshaltungskosten steigen, bleibt weniger für diskretionäre Ausgaben übrig. Das Umsatzwachstum des Online-Bekleidungshändlers Zalando wird voraussichtlich bis zur zweiten Jahreshälfte stagnieren, so die Prognose von Bloomberg Intelligence.

Ein grosser Teil des verbleibenden Geldes wird im Sommer wahrscheinlich in Ländern wie Spanien, Italien und Griechenland ausgegeben. Auf inländische Ziele entfielen 2021 nur gut ein Drittel aller Reisen der Deutschen, die länger als fünf Tage dauerten. Das könnte sich allerdings durch das Neun-Euro-Ticket ändern.

Am Mittwoch sagte Scholz, die Bundesregierung gehe den "ungewöhnlichen Schritt", Gespräche mit Arbeitgebern und Gewerkschaften ausserhalb der regulären Tarifverhandlungen zu suchen, um die Inflation zu bekämpfen. "Wir wollen eine konzertierte Aktion gegen den Preisdruck", sagte er im Bundestag.

(Bloomberg/cash)