Tang Yue bügelt ihr blaues Kleid, bevor sie Dutzende Fotos davon schiesst. Abschliessend wählt die 27-jährige Lehrerin aus der südwestchinesischen Stadt Guilin eines davon aus, um es Online zu stellen und einen Käufer für das Kleidungsstück zu finden. Für eine wachsende Zahl von Chinesen wie Tang, die von Arbeitsplatzverlust und Gehaltskürzungen betroffen sind, hat sich die Konsumwirtschaft rückwärtsgedreht: Sie kaufen nicht mehr - sie verkaufen.

Tang hat sich von ihrem Monatsgehalt von etwa 7000 Yuan (rund 960 Franken) in den vergangenen drei Jahren alles Mögliche gekauft, von Chanel-Lippenstiften bis zu Apples neuestem iPad. Doch seit sie wegen der Corona-Epidemie keine Kurse über Tourismusmanagement mehr geben kann und ihr Gehalt gekürzt wurde, hat bei ihr ein Umdenken eingesetzt.

"Der Ausbruch des Coronavirus war ein Weckruf", sagt sie. "Der Adrenalinschub, der mit dem Shopping einhergeht, ist weg. Als ich den Zusammenbruch so vieler Branchen sah, wurde mir klar, dass ich keinen finanziellen Puffer habe."

Lockdown verändert Shopping-Denken

Sollte Tangs Verhalten Schule machen, könnte das Tausenden Unternehmen - von grossen Einzelhändlern bis hin zu Restaurants, Fitnessstudios und Schönheitssalons - schaden. Eine Umfrage der Unternehmensberatung McKinsey ergab, dass zwischen 20 und 30 Prozent der Chinesen weiter vorsichtig beim Geldausgeben sein werden und entweder etwas weniger oder in einigen Fällen sogar sehr viel weniger konsumieren wollen.

"Der Lockdown gab den Verbrauchern viel Zeit, darüber nachzudenken und zu überlegen, was für sie wichtig ist", sagt Mark Tanner, Geschäftsführer der in Shanghai ansässigen Forschungs- und Marketingberatung China Skinny. "Da die Verbraucher viel mehr Zeit zu Hause verbringen, haben sie auch mehr Zeit und Gründe, Dinge zu sortieren, die sie nicht zu brauchen glauben - sie leben also nicht mehr in der Unordnung, die in vielen Wohnungen üblich ist."

Rekorde beim Wiederverkauf

Tang fertigte ein Tabelle an, in der sie ihre fast 200 Kosmetikprodukte und Hunderte von Kleidungsstücken auflistete. Die Dinge, die sie unbedingt behalten wollte, markierte sie rot. In den vergangenen zwei Monaten hat sie auf diversen Online-Gebrauchtmarktplätzen Artikel im Wert von fast 5000 Yuan verkauft. Die Schnäppchenjagd im Internet ist für einige Chinesen zur neuen Gewohnheit geworden.

Idle Fish, Chinas grösste Online-Website für Second-Hand-Waren, schaffte im März ein Rekord-Transaktionsvolumen, wie die Muttergesellschaft Alibaba gegenüber Reuters bestätigt. Forscher der Regierung sagen voraus, dass die Transaktionen für gebrauchte Waren in China in diesem Jahr erstmals die Marke von einer Billion Yuan (130 Milliarden Euro) übersteigen könnten.

Postings mit dem Hashtag #EntsorgenSieIhrZeug wurden in den vergangenen Wochen in den sozialen Medien Chinas zum Trend. Der Hashtag wurde mehr als 140 Millionen mal verwendet.

Zeit, den Besitz aufzuräumen

Jiang Zhuoyue, die als Buchhalterin bei einer Firma für traditionelle chinesische Medizin in Peking arbeitet, hat sich ebenfalls entschlossen, sich von Dingen zu trennen. "Früher kaufte ich zu viel ein und liess mich leicht durch Rabatte locken", sagt die 31-Jährige.

"Einmal bot Sephora 20 Prozent Rabatt auf alle Waren an, dann kaufte ich eine Menge Kosmetika, weil ich das Gefühl hatte, Geld zu verlieren, wenn ich es nicht tue." Die Mutter eines neun Monate alten Babys verkaufte erst kürzlich fast 50 gebrauchte Kleidungsstücke. Durch den Lockdown hatte sie Zeit für einen Kehraus.

Eleven Li, eine 23-jährige Flugbegleiterin, gab früher Unmengen aus für alle möglichen von Prominenten empfohlene Produkte wie Gesichtsmasken, Snacks, Konzertkarten. Jetzt sieht sie keine Möglichkeit mehr, ihre Ausgaben zu finanzieren. "Ich habe erst Ende vergangenen Jahres einen neuen Job gefunden. Dann kam Covid-19. Ich konnte kein einziges Mal mehr fliegen, und ich habe überhaupt kein Gehalt bekommen", sagt Li, während sie dabei ist, ihren Kindle zu verkaufen.

Regierung möchte mehr Konsum

Die Regierung ermuntert die Verbraucher, sich wieder in Einkaufszentren und Restaurants zu wagen. Dazu hat sie Bargeldgutscheine im Wert zwischen zehn und 100 Yuan ausgegeben. Viele Menschen sagen jedoch, dass sie sich Sorgen um ihre Arbeitsplätze und mögliche Lohnkürzungen machen. Die landesweiten Einzelhandelsumsätze sind auch deshalb in diesem Jahr bisher jeden Monat eingebrochen.

Jiang jedenfalls sagt, sie sei entschlossen, nicht wieder so freizügig Geld auszugeben, wie sie es vor der Krise getan hat. "Ich werde mich günstigeren Produkten zuwenden", sagt sie. "Ich werde Huaweis Smartphone wählen, weil das iPhone zu teuer ist."

Tang, die kürzlich Einkaufsgutscheine im Wert von 100 Yuan benutzt hat, um sich mit Lebensmitteln einzudecken, will ihren Geldbeutel noch fester in der Hand halten. "Ich habe mein monatliches Budget auf 1000 Yuan festgelegt", sagt sie. "Einschliesslich einer Flasche Bubble-Tee - und nur einer."

(Reuters/cash)