Wenn Emmanuel Macron am Montag zu seinem ersten Besuch nach seiner Wiederwahl als französischer Präsident nach Berlin reist, muss er mit Kanzler Olaf Scholz eine wichtige Frage klären: Was soll eigentlich das Ziel bei der Hilfe für die Ukraine sein? Denn in den vergangenen Tagen hat sich die Debatte verschoben - was eine Reihe von Folgefragen für die militärische und zivile Hilfe sowie die Dauer der Sanktionen aufwirft. Ging es zu Beginn der russischen Invasion vor allem darum, dass die Ukraine wenige Tage, dann einige Wochen gegen die russischen Angreifer standhalten sollte, so haben sich nun die Kriegsziele verändert.

"Es ist jetzt vor allem das Narrativ der Amerikaner, dass die Russen verlieren müssen und aus der Ukraine vertrieben werden müssen", sagt Stefan Meister, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), zu Reuters. Das von den USA initiierte Treffen der Verteidigungsminister von mehreren Dutzend Unterstützerstaaten in Ramstein habe vor allem dazu gedient, der Ukraine mittelfristig zu helfen und ihnen für den Kampf Waffen zur Verfügung zu stellen.

Tatsächlich hatte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin ein Ziel genannt, das weit über die Ukraine hinausgeht: "Wir wollen Russland in einem Maße geschwächt sehen, dass es dem Land unmöglich macht, zu tun, was es in der Ukraine mit der Invasion getan hat."

Auch Außenministerin Annalena Baerbock betonte: "Durch die Sanktionen sorgen wir dafür, dass ein weiteres militärisches Vorgehen in anderen Regionen aus russischer Kraft allein in den nächsten Jahren nicht möglich ist." Die Frage ist, wie lange die Sanktionen dafür angesichts der derzeitigen Rekordeinnahmen Russlands für Öl- und Gasverkäufe bei so einem Ziel eigentlich in Kraft bleiben müssten. Zur Ukraine selbst sagte Baerbock, dass alle russischen Soldaten das Land verlassen müssten - also auch die auf der 2014 annektierten Halbinsel Krim.

Kanzler Scholz bleibt vorsichtig und zaudert

Das stößt nicht überall in der Bundesregierung auf Zustimmung. Kanzler Scholz etwa bleibt bei einer sehr viel vorsichtigeren Wortwahl. "Putin darf diesen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen – und er wird diesen Krieg auch nicht gewinnen", sagte er am Freitag in einer Rede in Hamburg. Scholz unterscheidet sich erheblich etwa von den Aussagen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem britischen Premierminister Boris Johnson, die von einem "Sieg" der Ukraine sprechen.

Das passt zum neuen Selbstbewusstsein auch in Kiew und färbt offensichtlich auf deutsche Politiker ab: Es gehe nicht mehr darum, dass die Ukraine nicht verliere, sondern sie könne den Krieg gewinnen, sagen der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth (SPD), und der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter übereinstimmend.

Dabei ist Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj viel vorsichtiger. "Das Minimum ist, unsere Gebiete mit dem Stand vom 23. Februar wieder zu bekommen", sagte er in einer Video-Schalte beim Thinktank Chatham House mit Blick auf den Start der Invasion am 24. Februar. Das würde etwa die Halbinsel Krim ausklammern.

Vollständiger Sieg der Ukraine nicht realistisch

Deshalb ist meist völlig unklar, was eigentlich gemeint ist, wenn Politiker von "gewinnen" sprechen - und wie realistisch das ist. In Kreisen der Bundesregierung wird es als eher utopisch angesehen, dass die atomare Supermacht Russland am Ende wirklich die Krim zurückgeben könnte, auf der sich der zentrale Stützpunkt der russischen Schwarzmeer-Marine befindet.

Auch DGAP-Experte Meister sieht einen vollständigen Sieg der Ukraine nicht als realistisch an. "Es wird auf absehbare Zeit kein Ende des Krieges geben, wenn man die Ziele zu hoch ansetzt", warnt er. Die ukrainische Armee sei trotz der Erfolge eine Blackbox, deren Stärke man im Westen nicht einschätzen könne. Das viel größere Russland könne zudem mit einer Teilmobilmachung sehr viele Soldaten rekrutieren. Er warnt vor einem lange anhaltenden Krieg in niedriger Intensität.

Militärexperten betonen zudem, dass alleine die Rückeroberung der von den russischen Invasoren besetzten Gebiete andere und vor allem sehr viel mehr Waffen aus dem Westen erfordere - und eine neue Debatte, ob man dazu bereit ist. Auch die zivile Hilfe, bei der auf der Ukraine-Geberkonferenz nach polnischen Angaben 6,5 Milliarden Dollar gesammelt wurden, hängt letztlich davon ab, was man erreichen will. Denn humanitäre Hilfe und Finanzspritzen zur Vermeidung eines ukrainischen Staatsbankrotts müssen schnell geleistet werden. Aber klassische Wiederaufbauhilfe ist erst sinnvoll, wenn Russland aufhört, ukrainische Häuser oder Infrastruktur-Anlagen zu zerschießen. "Und niemand weiß, wann man jemals wieder aus Sanktionen aussteigen kann, wenn man diese etwa an den Abzug aller russischen Soldaten knüpft", heißt es in der Bundesregierung.

Aber auch auf russischer Seite hat sich die Rhetorik verändert. Als die russischen Angreifer noch auf Kiew zumarschierten, war von einer Entnazifizierung und Entwaffnung der Ukraine die Rede. Dann schob das Verteidigungsministerium die Eroberung des Donbass in den Vordergrund. Auch das Abschneiden der Ukraine vom Schwarzen Meer gilt als mögliches Ziel - obwohl alle westlichen Regierungen betonen, dass man nicht wisse, was Präsident Wladimir Putin wirklich wolle.

Möglicherweise wird der Kreml am 9. Mai zur großen Militärparade in Erinnerung an den Sieg im Zweiten Weltkrieg die eigenen Ziele neu formulieren - unmittelbar vor dem Treffen von Macron und Scholz. 

(Reuters)