Bomber vom Typ Tu-95 hätten am Sonntagmorgen Raketen auf die Stadt abgefeuert, teilten die ukrainische Luftwaffe und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko mit. Zwei Stadtteile im Osten seien von Explosionen erschüttert worden. Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte, es seien unter anderem Panzer zerstört worden, die europäische Länder nach Kiew gelieferte hätten. Der russische Präsident Wladimir Putin drohte in einem am Sonntag veröffentlichten Interview mit einem Angriff auf neue Ziele, sollten die USA damit beginnen, der Ukraine Langstreckenraketen zu liefern. Was ins Visier genommen würde, ließ er offen.

Nach vorläufigen Daten hätten russische Bomber vom Kaspischen Meer aus die Raketen auf Kiew abgeschossen, erklärte die ukrainische Luftwaffe. Der Angriff habe dem Eisenbahnnetz gegolten, sagte Serhij Leschtschenko, ein Berater des Stabschefs von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Dichter Rauch stand über den Stadtteilen Darnyzkji und Dniprowskji im Osten Kiews. Der Bürgermeister der Stadt Browary, die rund 20 Kilometer vom Zentrum Kiews entfernt liegt, forderte die Menschen wegen des Qualms auf, in den Häusern zu bleiben.

Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte, die Raketen seien aus großer Entfernung auf Kiew abgefeuert worden. Mehrere Panzer vom Typ T-72 sowie gepanzerte Fahrzeuge seien zerstört worden. Sie hätten in einem Gebäude gestanden, in dem sonst Eisenbahnwaggons repariert werden. Vor dem Einschlag der Raketen hatten in weiten Teilen der Ukraine Luftschutzsirenen geheult, auch in der Region Kiew. Fliegeralarm ist immer wieder in Kiew zu hören, größere Angriffe auf die Hauptstadt gab es aber seit Ende April nicht mehr, da die russische Armee sich auf den Süden und Osten der Ukraine konzentriert hat.

Selenskyjs Berater Mychailo Podoljak rief den Westen auf, mehr Waffen zu liefern und wegen des Angriffs auf Kiew härtere Strafmaßnahmen gegen Russland zu verhängen. "Der Kreml greift zu neuen heimtückischen Angriffen", erklärte er. "Die heutigen Raketenangriffe auf Kiew haben nur ein Ziel - so viele wie möglich zu töten."

Putin sagte der Nachrichtenagentur Tass zufolge im Interview des Senders Rossija-1, die "Aufregung" um westliche Waffenlieferungen an die Ukraine sei darauf angelegt, den Konflikt in die Länge zu ziehen. Die Ukraine hält das moderne Artillerie-Raketensystem M142 High Mobility Artillery Rocket (HIMARS) für entscheidend, um Einheiten und Waffenbestände im Rücken der russischen Streitkräfte anzugreifen. US-Präsident Joe Biden hat diese Woche die zusätzliche Lieferung moderner Raketensysteme angekündigt. Nach Darstellung Putins würde dies aber keine grundlegende Veränderung auf dem Schlachtfeld bedeuten. Die Lieferungen aus den USA und einigen anderen Ländern seien dazu bestimmt, Verluste auszugleichen. "Das ist nichts Neues. Es ändert nichts Wesentliches", sagte Putin.

Die russische Armee hat in den vergangenen Wochen ihre Offensive im Donbass im Osten des Ukraine forciert. In der dortigen Region Luhansk ist die Industriestadt Sjewjerodonezk hart umkämpft. Es ist Russland bislang nicht gelungen, die beiden Regionen Luhansk und Donezk, die den Donbass bilden, vollständig einzunehmen. Sollte das russische Militär Sjewjerodonezk und seine Zwillingsstadt Lyssytschansk auf der anderen Seite des Flusses Siwerskji Donez einnehmen, hätte es die Region Luhansk vollständig unter Kontrolle. Putin hätte damit ein wichtiges Ziel erreicht.

Sturm auf Sjewjerodonezk hält an

Die Ukraine meldete allerdings, am Samstag seien die russischen Truppen in Teilen von Sjewjerodonezk zurückgedrängt worden. Unabhängig bestätigen lassen sich die Angaben nicht. Der Gouverneur von Luhansk, Serhij Gaidai, erklärte am Sonntag, der Sturm auf Sjewjerodonezk halte an. Das russische Militär habe den Ostteil eingenommen. "Die Russen haben 70 Prozent der Stadt kontrolliert, aber in den vergangenen zwei Tagen sind sie zurückgedrängt worden", sagte Gaidai. Sjewjerodonezk sei zur Hälfte wieder unter ukrainischer Kontrolle. "Die Stadt ist jetzt mehr oder weniger in zwei Hälften geteilt."

Der Bürgermeister der Stadt, Olexandr Strjuk, hatte zuvor im Fernsehen gesagt, die Straßenkämpfe seien am Samstag weitergegangen. Beide Seiten hätten Artillerie eingesetzt. "Die Lage ist angespannt, schwierig. ... Unser Militär tut alles, was es kann, um den Feind aus der Stadt zu vertreiben." Allerdings mangele es an Lebensmitteln, Treibstoff und Medikamenten. 

(Reuters)