cash: Herr Hermann, wer sind nun die wahren Sieger der Abzocker-Initiative?

Michael Hermann: Zum einen ist es ein Sieg der Volksversteher über die wirtschaftlichen und politischen Eliten. Strategisch ist es allerdings die politische Linke, die am meisten von diesem Resultat profitiert. Sie hat in den kommenden Monaten weitere Initiativen wie die 1:12- oder die Bonusbesteuerungsinitiative im Köcher. Ein Nein des Volks zur Abzocker-Initiative hätte diesen Projekten den vorzeitigen Todesstoss verpasst. Nun werden sie jedoch enorme Beachtung erhalten. Was politisch besonders bedeutsam ist: Erfahrungsgemäss lässt sich auch das Parlament von solchen Volksentscheiden beeinflussen.

Was sagt dieses Ergebnis über die Stimmberechtigten aus?

Obwohl diese eigentlich tief bürgerlich und meist auch wirtschaftfreundlich sind, schlägt offenbar bei der Entlöhnungsfrage der Gerechtigkeitssinn oder – wenn man böse will – der Neid durch. In letzter Zeit haben sich die wachstums- und wirtschaftsskeptischen Volksentscheide gehäuft. Mir scheint, dass sich in der Schweiz seit der Finanzkrise die Haltung verbreitet, dass das Land wirtschaftlich ohnehin überlegen sei. Dies könnte sich irgendeinmal rächen, wenn wir unsere Standortvorteile allzu leichtfertig aufgeben.

Der Bundesrat und die Wirtschaft haben diese Initiative von Anfang an bekämpft. Wie konnte es dennoch zu diesem deutlichen Resultat kommen?

Die Gegner der Initiative hatten bei nüchterner Betrachtung von Anfang an wohl nie eine Chance gehabt. Die Stimmung gegenüber hohen Löhnen und Boni ist so stark, dass die Initiative letztlich einen Start-Ziel-Sieg feiern konnte. Die deutliche Zustimmung zeigt, wie stark dieses Anliegen die Leute bewegt, selbst mit einer besseren Kampagne hätten sich kaum genügend umstimmen lassen.

Es fand auch nicht der erwartete harte Schlagabtausch im Abstimmungskampf statt. Weshalb?

Auf Seiten der Gegner lief tatsächlich vieles schief. Als sie in der zweiten Phase ihrer Kampagne die Initiative direkt attackierten, wurde das gar nicht mehr richtig wahrgenommen. Die Gegner hatten sich selber in eine Zwickmühle hineinmanövriert. Sie wollten mit einem indirekten Gegenvorschlag einen Abstimmungskampf machen. Das ist eigentlich absurd, weil man über diesen Gegenvorschlag gar nicht abstimmen konnte.

Eine eigentliche Fehlkonstruktion?

Ja, ein klarer Fehler, weil diese Konstellation nicht kommunizierbar war. Die zweite Phase der Kampagne ging dann in der Öffentlichkeit völlig unter. Aus meiner Sicht hätte die einzig sinnvolle Kampagne darin bestanden, Angst und Verunsicherung zu thematisieren. Ein Erfolg wäre aber, wie gesagt, auch in diesem Fall nicht garantiert gewesen angesichts der so starken Anti-Abzocker-Stimmung.

War das der einzige Fehler?

Nein, die Formel 'Wir machen eine Anti-Abzocker-Kampagne und haben den besseren Vorschlag' funktioniert in einem Abstimmungskampf nicht. Schliesslich wurde während drei Monaten auf Befürworter- wie auf Gegnerseite ein eigentliches Duell geführt, wer am lautesten gegen die Abzocker ankämpft. Bloss konnte die Bevölkerung gar nicht Ja zum indirekten Gegenvorschlag sagen.

Was hat der Wirtschaftsdachverand Economiesuisse im Wahlkampf falsch gemacht?

Economiesuisse hätte sich entweder ganz heraushalten oder sich zurückhaltend und bescheiden geben müssen. Das Problem ist doch: Die Economiesuisse steht auch für die Teile der Wirtschaft, die von der Initiative angeprangert werden, und mit ihren grossen Geldmitteln bei Abstimmungen steht sie selber für eine Art Abzocker. Sie hat sich also richtiggehend anerboten, als Buhmann dazustehen. Sie haben dieses Image noch selber auf sich gezogen, indem sie von Anfang an betonten, wie viel Geld sie in den Abstimmungskampf stecken. Dazu kam noch die Affäre um bezahlte Leserbriefschreiber und der abgelehnte Kampagnenfilm von Michael Steiner.

Auch die Wirtschaft hat nicht zu einem Stimmungswechsel beigetragen. Überrascht Sie das?

Nicht wirklich, denn genau jene Teile der Wirtschaft, die vor allem am Pranger stehen, interessieren sich kaum für die Niederungen der Schweizer Innenpolitik. Direkte Auswirkungen auf die Stimmungslage dürfte aber vor allem Geschichte um die 72 Millionen für Daniel Vasella gehabt haben. Sein Rückzug vom Vertrag war eine Kapitulation. Es war die Bestätigung, dass politischer Druck notwendig ist, und es hatte zur Folge, dass selbst Leute, welche die Initiative sachlich nicht guthiessen, trotzdem ein Ja in die Urne legten – allein um ein Zeichen zu setzen.

Wie wird dieses Ergebnis im Ausland aufgenommen werden?

Mit dem kürzlichen Beschluss der EU, Boni zu deckeln, steht die Schweiz in dieser Thematik nicht alleine. Mit dem Ergebnis vom Wochenende rennt man deshalb umso mehr auch im Ausland offene Türen ein. Vor allem deshalb, weil im Ausland die Schweiz als Pulsmesser bei der Bevölkerung gilt. Für Aufsehen wird sorgen, dass gerade die wirtschafts- und bankenfreundliche Schweiz einer solchen Initiative zustimmt. Das läuft dem Image, das die Schweiz im Ausland hat, zuwider.

Bei der Abzocker-Initiative ging es nicht um grundsätzliche Lösungen, sondern darum, Zeichen zu setzen. Wird sich dieser Trend weiter verschärfen?

Wenn man die jüngsten Initiativen anschaut, könnte man diesen Eindruck gewinnen. Auch bei der Minarett-, Unverjährbarkeit- und Zweitwohnungsinitiative ging es vor allem darum, einem Unbehagen Ausdruck zu verleihen. Früher wurde die Classe politique kritisiert, so genannte Symbolpolitik zu betreiben. Inzwischen ist es die Bevölkerung, die zu diesem Mittel greift. Ich erwarte, dass hierzu eine verstärkte Debatte entstehen wird.

Wird das auch die Diskussion um eine Erhöhung der für eine Initiative benötigten 100‘000 Unterschriften anheizen?

Nicht im Zusammenhang mit der Abzocker-Initiative. Eine Erhöhung der Unterschriftenzahl wird ein Thema wegen der hohen Zahl eingereichter Initiativen bleiben.

Würde eine Erhöhung der von Ihnen angesprochenen Symbolpolitik einen Riegel schieben?

Ich glaube nicht. Eine Minder-Initiative wäre auch zustande gekommen, wenn 150‘000 Unterschriften benötigt worden wären. Solche 'Bauch'-Initiativen werden kaum auf diese Weise verhindert werden können. Und sind diese überhaupt so schlecht? Es ist immerhin eine Möglichkeit für die Bevölkerung, Warnsignale auszustossen. Nehmen wir als Beispiel die Minarett-Abstimmung: Es war ein Hilfeschrei der Bevölkerung. Und trotz Annahme nehmen Immigranten die Schweiz weiterhin als tolerant wahr. Unsere Demokratie verkraftet solche Symbolabstimmungen.

Sie sind also gegen eine Erhöhung der Unterschriftenzahl?

Ja. Ich denke nicht, dass heute das Unterschriftensammeln einfacher wurde. Früher war es noch möglich, ein Gros der Unterschriften an Abstimmungssonntagen vor dem Wahllokal zu sammeln. Heute stimmen aber die meisten Leute brieflich ab.