cash.ch: Wir stehen kurz vor der Sommerpause - aber Inflation, Krieg oder die Krise bei den Energieträgern machen keine Pause. Mit was für Gedanken tragen Sie sich als Ökonom in diesen Tagen? 

Christoph Schaltegger: Wir haben in den letzten Jahren eine etwas hypersensible Denkweise entwickelt, in der kleine Probleme zu grossen Problemen stilisiert wurden und umgekehrt. Aber jetzt finden wir wirtschaftlich eine Gemengelage vor, die meiner Ansicht nach tatsächlich recht explosiv ist. Dazu kommt noch ein Krieg an den Toren Europas, der persönliches und menschliches Leid bringt, aber auch ökonomisch eine Zäsur ist.

Zu den ökonomischen Problemen zählt die Inflation, die im Moment viele und vieles bewegt. 

Diese Inflation ist aus einem massiven Geldüberhang entstanden, den die Zentralbanken geschaffen haben. Entzündet hat sich die Inflation aber an Angebotsbeschränkungen wie stockenden Lieferketten und einem Nachholbedarf beim Konsum als Ausläufer der Corona Pandemie. Das Gefährliche an der Situation ist, dass vieles noch 'in der Pipeline' ist.

Wie meinen Sie dies? 

Es kommt noch einiges auf uns zu. In den Produzentenpreisen sind schon Dinge enthalten, die in den Konsumentenpreisen im Moment noch nicht zu sehen sind. Zudem bleibt die Geldmenge riesig, auch wenn Unternehmen, Banken und Private das meiste horten. Die Gefahr der Inflation ist also überhaupt noch nicht gebannt. Etwas optimistischer stimmt mich aber, dass zumindest ein Teil der Zentralbanken reagiert hat. Man merkt langsam, dass wir in einer Traumwelt gelebt haben, die nun zu Ende ist. Geldpolitisch hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) die Zeichen der Zeit erkannt. Bei der Energieversorgung bin ich mir hingegen noch nicht so sicher, ob wir auf dem richtigen Weg sind.

Weshalb nicht? 

Eine mindestens teilweise staatliche Eigentümerstruktur in der Energieversorgung durch Kantone und Gemeinden ist nur damit zu rechtfertigen, dass in der Produktion und Verteilung von Energie ein Marktversagen vorliegt. Daher muss der staatliche Eigentümer hier auch die entsprechende Kontrolle wahrnehmen. Die Rettungsschirme, die jetzt aufgespannt werden, sind dagegen ein weiterer Versuch, Probleme abzuschieben und mit fremdem Geld des Bundes zu übertünchen. Man schafft damit ein gigantisches moralisches Risiko. Es ist ebenfalls Ausdruck dieser Traumwelt: Probleme werden mit Geld zugedeckt, aber regulatorische Herausforderungen werden nicht angegangen. Auch in der Schweiz glaubt man mehr und mehr, man könne Probleme mit Geld lösen. 

In Deutschland zum Beispiel hat man in der Tat den Eindruck, es gebe kein Thema, wo nicht Alarmstimmung herrscht und bei dem die Regierung nicht auf irgendeine Weise zum Handeln aufgerufen wird. In der Schweiz scheint man viel gelassener zu sein. Weswegen zeichnen Sie dennoch ein so kritisches Bild? 

Wieso kritisch? Vielmehr realistisch und faktentreu! Es gibt viele globale Trends, der die Schweiz auch ausgesetzt ist. Worin die Schweiz sich immer noch etwas von anderen Ländern unterscheidet, ist, dass sie zwar Teil eines internationalen Zeitgeists ist, aber dass man auch Wert darauf gelegt hat, pragmatisch an die Probleme heranzugehen. Dies bedeutet, dass der Staat eine limitierte und dezentrale Rolle einnimmt. Doch der genossenschaftliche Aspekt im Schweizer Wirtschaftsleben geht etwas verloren, und der Etatismus, also der Ruf nach dem Staat, nimmt zu.  

Anders als in anderen westlichen Ländern unterstützt der Staat den Energiekonsum nicht. Die bürgerliche Seite will keine Subventionen, die linke Seite will zum Beispiel das Autofahren nicht unterstützen. Wäre es zur Staatsfinanzierung nicht immer noch ein sehr grosser Schritt? 

Dass wir die Diskussion etwa um eine mögliche Subventionierung des Benzinpreises haben, zeigt ja, dass wir solche Dinge in Erwägung ziehen. Aber beim Bund richten wir uns an den falschen Adressaten. Zudem erwarten wir auch noch die falschen Instrumente. Dass Inflation ein Problem ist, ist klar, und dass dieses gelöst werden muss, ist auch klar. Aber dafür haben wir die Geldpolitik und die SNB. Es ist nicht Aufgabe des Bundes und seiner Finanzpolitik, ins Preisgefüge einzugreifen. 

Die Motivation eine Staates dürfte aber sicherlich auch darin liegen, soziale Krisen zu vermeiden. 

Sollten wir in eine Rezession geraten, dann liesse sich argumentieren, dass wir es nicht mehr nur mit einem Problem der Geldpolitik zu tun haben. Der Staat hat Instrumente zur Bekämpfung der sozialpolitischen Folgen einer Rezession. Deren Einsatz hinge aber auch von der Tiefe der Rezession ab. Die Idee, ins Preisgefüge einzugreifen, erscheint mit dennoch als neue Qualität des Etatismus – weil eben Probleme dadurch nicht gelöst, sondern bloss auf die lange Bank geschoben werden. Das ist ja keine neue Erkenntnis, die Geschichte bietet hierfür genügend Beispiele. Dass so etwas wenig effizient ist, weiss man schon lange. Und vor allem: Wenn man die Preise administriert, dann entlädt sich die Inflation entweder woanders oder später. 

Rund 8 Prozent Inflation in den USA und der Eurozone, knapp 3 Prozent in der Schweiz: Die Zahlen sind unterschiedlich, aber in ihrer Lebensspanne ist es für die meisten Leute die erste Inflation. Hat man in früheren Inflationen weniger nach dem Staat gerufen? 

In inflationären Prozessen wird immer nach dem Staat gerufen. Sie sind auch im Wesentlichen immer durch den Staat und seine geldpolitischen Akteure verursacht worden. Somit war es an sich ja auch nachvollziehbar, dass zur Inflationsbekämpfung nach dem Staat gerufen wurde.

Was ist heute anders? 

Früher waren Finanzpolitik und Geldpolitik in vielen Ländern nicht getrennt. Erst ab den 1990er Jahren wurde es zum breiten Konsens, dass die Unabhängigkeit der Zentralbanken wichtig ist. Nicht wegen der Unabhängigkeit als Wert für sich, sondern um die Verlockungen, für alle möglichen Ausgabenwünsche des Staates in die Schatulle der Zentralbank zu greifen, zu dämpfen. Deshalb war es sinnvoll, die Notenbanken mit einem klaren und eng definierten Mandat auszustatten. Die Notenbank soll die Preisstabilität aufrechterhalten und nicht in die Verteilungspolitik eingreifen. In den 1990er Jahren war dies weltweit der 'Common Sense'. Es überrascht mich etwas, dass die Notenbanken de jure zwar immer noch unabhängig sind, aber de facto in irgendeiner Form monetäre Staatsfinanzierung betreiben oder sich in noch weiter entfernte Politikbereiche wie die ökologische Nachhaltigkeit bewegen. Und dazu kommt jetzt die Forderung, dass der Staat bzw. seine Finanzpolitik und nicht die Zentralbank auch noch die Inflation bekämpfen müsse. Die Rollen sind jetzt nicht mehr richtig getrennt.

Glauben Sie, dass die Schweiz dies auch nicht mehr macht? 

Doch, zu einem grossen Teil schon. Die SNB hat eine sehr unabhängige Stellung. Ihre Reputation basiert auch darauf, dass sie sich diese unabhängige Position seit zum Zusammenbruch von Bretton Woods (System fixierter Wechselkursbandbreiten nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1973, Anm. d. Red.) über die Jahre erarbeitet hat. Auch in der jüngsten Vergangenheit hat die SNB immer wieder bewiesen, dass sie überraschende Entscheide fällen kann und auch nicht sofort in den Verdacht geriet, finanzpolitische Ziele zu erfüllen. 

Mit einer Zinserhöhung, die nun am 16. Juni verkündet wurde, hat die SNB aber auch lange gewartet. 

Wie frühzeitig die SNB reagiert hat, lässt sich diskutieren. Im internationalen Vergleich handelte sie zeitnah. Das ist ihr zugutezuhalten.

Der Konsens rechnete nicht mit einer SNB-Zinserhöhung im Juni. Überraschte Sie persönlich dieser Schritt?

Ich war schon überrascht, aber im positiven Sinn. Und im Nachhinein wirkt der Schritt eigentlich nicht so überraschend. Die SNB nahm schlicht ihr Mandat wahr. Dass sie handelte, war nichts als konsequent. So gesehen sollte man gar nicht überrascht sein. Wir haben allerdings in den vergangenen 20 Jahren weltweit eine Geldpolitik erlebt, die für alles und jedes angerufen wurde und mit welcher Notenbanken stark von ihrem Mandat abgewichen sind.  

Für die SNB hat die Inflationsbekämpfung jetzt Vorrang, der Franken «darf» nun auch aufwerten. Ist dies eine gute Idee? 

Die SNB hat ein paar Grade mehr Freiheit als andere Notenbanken, weil sie die Inflation über eigene Zinsschritte wie auch eine Währungsaufwertung bekämpfen kann. Wir sehen zwei Instrumente, die jetzt dem gleichen Ziel dienen. Deswegen sehe ich kein so grosses Problem. Anders wäre es, wenn die beiden Instrumente nicht demselben Ziel dienen würden. 

Halten Sie einen «umgekehrten Währungskrieg» in der näheren Zukunft für realistisch, also dass Notenbanken zwecks Inflationsbekämpfung statt einer schwachen eine starke Währung anstreben und sich somit in einem Wettstreit messen? 

In den vergangenen Jahren haben wir ein 'competitive debasing' gesehen - mitunter aber war der Internationale Währungsfonds gegründet worden, um solche Kämpfe um Entwertungen im Dienste der Wettbewerbsfähigkeit zu vermeiden. Ich fände es in der heutigen Situation ein bisschen verfrüht zu sagen, dass wir bereits das Gegenteil davon sehen. Um von einem möglichen 'umgekehrten Währungskrieg' zu sprechen, müssten die Zinsen noch stark steigen. Und dies hätte wiederum dramatische Nebenwirkungen. Doch sind wir noch nicht einmal in der Normalisierung angekommen. Die Schweiz hat immer noch Negativzinsen, und historisch gesehen sind die Zinsen weltweit nicht hoch. Bei den Zinsen sind wir erst auf dem Weg zur Normalisierung. Und das Problem des massiven Geldüberhangs haben wir noch nicht gelöst. 

Wie geht es bei den Zinserhöhungen Ihrer Einschätzung nach weiter? 

Wenn wir auf den massiven Geldüberhang und die Produzentenpreise blicken, die noch nicht in den Konsumentenpreisen enthalten sind, ist meiner Einschätzung nach beim Zinsniveau das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht.

Inflation wird auch als schleichende «Enteignung» oder so etwas wie eine Steuer beschrieben, die auch tiefere Einkommen belastet. Laufen wir auch auf ein sozio-ökonomisches Problem zu? 

Richtig, die Inflation ist eine Steuer. Sie belastet Gläubiger und entlastet Schuldner. Die Inflation ist tendenziell aber auch regressiv: Sie belastet tiefere Einkommen mehr, weil Ärmere den Inflationsschutz weniger gewährleisten können als Reichere. Allerdings ist auch der potentielle Vermögensverlust bei den Reicheren grösser. Die sozio-ökonomischen Folgen sind also nicht ganz klar. Aber die Inflation hat sozialpolitische Veränderungen zur Folge. In einer harten Inflation oder Rezession hätten wir die Möglichkeit von Transfers. Was sozioökonomisch oder soziokulturell aber ein Problem werden könnte, ist der Vermögenszerfall respektive das verminderte Sparen. In einer inflationären Phase ist der Anreiz dazu angesichts von Geldentwertung massiv tiefer. Vermögensbildung ist aber die Basis des Wirtschaftswachstums. Wenn diese uninteressant wird, ist dies für eine Gesellschaft eine Herausforderung. 

Trägt demnach nicht nur der Staat eine Herausforderung, das «richtige» zu tun, sondern auch individuell jede wirtschaftlich handelnde Person? 

Der Mensch ist, wie der Mensch ist. Wir hatten schon lange keine Inflation mehr. Es braucht Lernprozesse und der Mensch ist auch lernfähig. Ich gehöre allerdings nicht zu den Ökonomen, die den Menschen erziehen wollen. 

Ein bisschen «verzogen» hat man die Menschen in der Tiefzinsphase schon, oder nicht? 

Eine Welt ohne Zins ist eine absurde Welt. Es ist eine eigenartige Welt, in der Konsumverzicht bestraft wird. Das Problem ist aber kein menschliches Problem, sondern ein menschengemachtes. Es ist gut, dass wir uns von dieser Traumwelt verabschieden.

Wir wissen nicht genau, wie die Inflation sich noch entwickeln wird, und ob die Notenbanken das Problem rasch in den Griff bekommen. Aber werden Teile der Gesellschaft noch einen Schock erleben? 

In den europäischen Nachbarländern sitzt der Schock schon tief. Lieferketten-Engpässe führen dazu, dass Waren nicht mehr in der gleichen Fülle angeboten werden. Und dies ist für viele Menschen in einem Supermarkt oder in einem Warenhaus sichtbar. In Deutschland lässt die Regierung ökologische Versprechen aus dem Wahlkampf fallen, um die Energieversorgung sicherzustellen. Dies ist sehr pragmatisch, aber auch Ausdruck eines Schocks. In der Schweiz sieht man an den Lohnverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, dass Ängste vorhanden sind. Angst um den Kaufkrafterhalt haben wir in dieser Form schon lange nicht mehr erlebt.  

Wie würde die Schweiz eine Rezession oder eine Phase der Stagflation durchstehen?

Der Ursprung der meisten Krisen sind Vertrauenskrisen. Entscheidend ist deswegen, die Erwartungsbildung zu verändern. Die Inflationserwartungen sind 'nicht mehr verankert', wie man in der Fachsprache sagt. Die Nervosität, die wir jetzt sehen, zeigt dies. Genauso die Lohnforderungen, die eine Lohn-Preis-Spirale in Gang zu setzen scheinen. Die Zentralbanken müssen sich wieder auf ihr Mandat zurückbesinnen und gewisse Härten einer geldpolitischen Normalisierung aushalten. Eine Welt, in der Zins etwas normales ist und Sparen auch belohnt wird. Falsch wäre es, wenn der Staat alles durchfinanziert und reguliert.

Christoph Schaltegger ist seit 2010 Ordinarius für Politische Ökonomie an der Universität Luzern. Seit vergangenem Jahr leitet er das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP). Das Studium der Wirtschaftswissenschaften absolvierte er in Basel. Nach dem Studium war er unter anderem als Referent von Bundesrat Rudolf Merz tätig. Schaltegger wird seit einigen Jahren zu den einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftlern in der Schweiz gezählt und er rangierte im Ökonomen-Ranking der "Neuen Zürcher Zeitung" 2021 auf Platz 6.