Nimmt man Twitter als Fieberkurve dafür, ob ein Thema heissläuft, dürfte Olaf Scholz seinen Urlaub entspannt fortsetzen. Beim Kurzmitteilungsdienst taucht am Freitag zwar vielfach Kritik am Bundesfinanzminister im Zusammenhang mit dem Wirecard-Skandal auf, aber kein Proteststurm.

Dennoch schrillen bei der SPD die Alarmglocken: Es geht um den Mann, der die Sozialdemokraten aller Voraussicht nach in die Bundestagswahl 2021 führen soll. "Wir nehmen das sehr, sehr ernst", sagt ein Abgeordneter zu Reuters. Das zielt vor allem auf das aus Sicht der SPD erkennbare Bemühen von Union und Opposition, den angehenden Kanzlerkandidaten in die Affäre hineinzuziehen. Eigene Versäumnisse des Finanzministers im mutmasslichen Milliarden-Bilanzbetrug beim Dax-Unternehmen sieht die SPD derzeit nicht.

Scholz Anfang 2019 informiert

In einem Bericht an den Bundestags-Finanzausschuss hielt das Finanzministerium am Donnerstag fest, dass Scholz am 19. Februar 2019 über das Wirecard-Leerverkaufsverbot unterrichtet wurde. Mit diesem tags zuvor öffentlich gemachten Schritt reagierte die Aufsichtsbehörde Bafin damals auf mögliche Marktmanipulationen beim Handel mit Wirecard-Aktien.

"Es wurde darauf hingewiesen, dass die Bafin in alle Richtungen untersucht", heisst es in dem Reuters vorliegenden Bericht weiter. Für die Opposition, aber auch den Koalitionspartner ist das Anlass, Scholz ins Visier zu nehmen.

Grünen-Finanzpolitiker Danyal Bayaz schliesst daraus: "Der Eindruck einer kollektiven Unverantwortlichkeit wird auch dadurch bestärkt, dass Olaf Scholz bereits Anfang 2019 über den Fall Wirecard informiert war." Der Wirecard-Experte der Union, Matthias Hauer, sekundiert: "Finanzminister Olaf Scholz sollte das Thema endlich zur Chefsache machen und sich nicht wegducken." FDP-Politiker Florian Toncar schlägt in dieselbe Kerbe: Scholz müsse "endlich für umfassende Aufklärung im Wirecard-Skandal sorgen".

SPD rückt CDU-Minister in den Blick

Aus der SPD kommt Widerspruch. "Ich habe keine Anzeichen, warum der Wirecard-Skandal für Olaf Scholz gefährlich werden sollte", sagt der Wirecard-Berichterstatter der Fraktion, Jens Zimmermann, am Freitag zu Reuters. "Der Minister wurde Anfang 2019 über das Leerverkaufsverbot informiert - dass die Bafin also zu einem sehr scharfen Schwert greift, um Marktmanipulation zu unterbinden. Daraus kann man nicht ableiten, dass der Minister etwas unterlassen hätte. Damit musste er davon ausgehen, dass die Bafin handelt."

Auch eine andere SPD-Finanzpolitikerin, Cansel Kiziltepe, springt dem Finanzminister zur Seite. Sie steht Scholz in vielen Fragen nicht nahe, unterstützte im Rennen um den Parteivorsitz das siegreiche Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, gegen das Scholz im November 2019 unerwartet deutlich unterlag. "Alles auf Olaf Scholz zu münzen, wäre nicht richtig", sagt Kiziltepe zu Reuters. "Die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer hat der Wirtschaftsminister Peter Altmaier." Die Experten hatten Wirecard über Jahre eine tadellose Bilanz attestiert, bevor Ende April feststand, dass es für 1,9 Milliarden Euro keine Belege gab. Kiziltepe sieht daher CDU-Politiker Altmaier in der Pflicht, zur Aufsicht über die Prüfer Stellung zu nehmen.

Auch Scholz-Vertraute wie sein Staatssekretär Wolfgang Schmidt, der zu seinem engsten Beraterkreis zählt, waren in Sachen Wirecard unterwegs. Am 27. Juni 2019 informierte Schmidt in einer Mail China über das Interesse Wirecards "am Eintritt in den chinesischen Markt", heisst es im Ministeriumsbericht. Mit Scholz - der seit Februar von Bafin-Ermittlungen wusste - sei dieses Vorgehen nicht abgesprochen gewesen, berichtet "Der Spiegel" unter Berufung auf das Finanzministerium.

Teilnehmer einer Informationsrunde von Finanz-Staatssekretär Jörg Kukies am Donnerstagabend berichteten zudem, es habe sich um eine eher formale Mail gehandelt: Sie sei kein Wegbereiter für Wirecard gewesen, habe auch kein Lob für den Zahlungsabwickler enthalten.

SPD vermutet Wahlkampfkalkül

Aus der SPD heisst es, die Union sei schon im Wahlkampfmodus. Deren Kritik laufe auf eine "Schmutzkampagne" hinaus, um das voraussichtliche Zugpferd der SPD zu beschädigen. Scholz ist in Umfragen der populärste SPD-Politiker. Auch im Vergleich zu möglichen Kanzlerkandidaten der Union hat er derzeit die Nase vorn, wie jüngst eine Forsa-Umfrage für RTL/n-tv zeigte. Nur im Direktvergleich mit CSU-Chef Markus Söder lag Scholz hinten.

Die Kritik aus der Union könnte aus Sicht eines SPD-Abgeordneten sogar etwas Positives bewirken. "Es gibt zu Olaf Scholz als Kanzlerkandidat keine Alternative", sagt ein Abgeordneter. "Kritik an ihm schliesst dann auch unsere Reihen." Die Parteivorsitzenden Esken und Walter-Borjans wollen im Spätsommer einen Kanzlerkandidaten vorschlagen. Im Gespräch ist auch Fraktionschef Rolf Mützenich, was in der Partei aber eher als taktisch gewertet wird - damit die Parteispitze formal eine Auswahl habe.

Manch einer bei Twitter sieht im Wirecard-Skandal dennoch den Stoff, dem Finanzminister weitere Ambitionen zu vermasseln. Dort wurde am Freitag geätzt, Scholz könnte eine unrühmliche Reihe fortsetzen und den Start als Kanzlerkandidat verstolpern - wie einst Peer Steinbrück mit seinen Rede-Honoraren oder Martin Schulz mit der Beförderung von Vertrauten im EU-Parlament: "Will er sich 2021 etwa in die Reihe der belasteten @spdde-Kanzlerkandidaten einordnen?", ätzte @Schwab0711. 

(Reuters/cash)