Die jüngsten Erfolge bei der Entwicklung von Corona-Impfstoffen schüren die Hoffnung auf eine "Herdenimmunität" - eine Eindämmung der Pandemie dadurch, dass große Teile der Bevölkerung immun gegen Covid-19 sind. Dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) zufolge genügt eine Immunisierung von etwa zwei Dritteln der Bevölkerung, um die Verbreitung von Corona aufzuhalten. Impfungen sollen dabei helfen, diese Durchdringung zu erreichen. Doch das ist an hohe Erwartungen geknüpft, was Vakzine leisten können. Einige Experten halten solche Ansprüche für überzogen.

"Die Idee der Herdengemeinschaft ist es, die Gefährdeten zu schützen", erläutert Eleanor Riley, Professorin für Immunologie und Infektionskrankheiten an der Universität Edinburgh. Wären beispielsweise 98 Prozent einer Bevölkerung geimpft, träten nur so geringe Virusmengen auf, dass die restlichen zwei Prozent geschützt wären. Herdenimmunität heiße aber nicht, dass Einzelne sich nicht anstecken könnten, betont ECDC-Experte Josep Jansa. "Man darf nicht glauben, wegen der Herdenimmunität kann es mich nicht treffen. Herdenimmunität bezieht sich auf den Schutz der Gemeinschaft."

Inwieweit Corona-Impfstoffe dabei helfen können, eine Herdenimmunität zu schaffen, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Wie stark ist die Verbreitung des Virus? Können die Impfstoffe, die nun vor der Zulassung stehen, eine Übertragung des Erregers stoppen? Oder verhindern sie nur eine Erkrankung der Menschen? Wie groß ist der Anteil der Bevölkerung, der zu einer Impfung bereit ist? Bieten die Impfstoffe allen Menschen den gleichen Schutz?

Je ansteckender ein Virus ist, desto höher muss der entweder durch die Krankheit selbst oder durch Impfung immun gewordene Anteil der Bevölkerung sein, damit man von Herdenimmunität sprechen kann. Aufschluss gibt hier die Reproduktionsrate: Der sogenannte R-Wert gibt an, wie viele Menschen eine mit einer bestimmten Krankheit infizierte Person unter normalen Umständen ansteckt. Das hoch infektiöse Masernvirus zum Beispiel hat einen geschätzten R-Wert von zwölf oder höher. Eine Herdenimmunität tritt deshalb erst ein, wenn mindestens 92 Prozent einer Gruppe immun sind. Bei einer saisonalen Grippe mit einem R-Wert von 1,3 würde der Schwellenwert bei nur 23 Prozent liegen.

Beim Coronavirus ist der genaue R-Wert nicht bekannt

Beim Coronavirus ist der genaue R-Wert gar nicht bekannt, wie Winfried Pickl, Professor für Immunologie an der Medizinischen Universität Wien, erläutert. "Das Problem ist, dass wir momentan nicht genau wissen, wie schnell das Virus ohne Schutzmaßnahmen - also wie vor einem Jahr mit Reisen und normalen sozialen Kontakten - übertragen wird." Da viele Länder noch immer weit von normalen Verhältnissen entfernt seien, müsse man davon ausgehen, dass der R-Wert von Covid-19 "näher bei vier als bei zwei" liege, erklärte er. Denn trotz umfassender Schutzmaßnahmen habe der R-Wert etwa in Österreich oder Deutschland in der Nähe von 1,5 gelegen.

Darüber hinaus würde ein Impfstoff mit weniger als 100 Prozent Wirksamkeit eine entsprechend höhere Durchimpfung erfordern, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Der von der deutschen Biotechfirma BioNTech zusammen mit dem US-Pharmakonzern Pfizer entwickelte Impfstoff zeigt ersten Daten zufolge eine Wirksamkeit von 95 Prozent, der von Moderna von 94,5 Prozent. Um in den USA eine Herdenimmunität zu erreichen, hält es Amesh Adalja vom Johns Hopkins Center for Health Security für ein gutes Ziel, mehr als 70 Prozent der Bevölkerung zu impfen. Ein höherer Wert könnte erforderlich sein, wenn ein Impfstoffe weniger wirksam wäre.

Einen weiteren wichtigen Faktor sehen Experten darin, ob ein Impfstoff die Übertragung des Virus stoppen kann. Bisherige Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die ersten Impfstoffe, die auf den Markt kommen, zumindest verhindern, dass Menschen an Covid-19 erkranken.

Geimpfte könnten sich weiter mit dem Virus infizierten

Es könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Geimpften weiter mit dem Virus infizierten und es unbemerkt an andere weitergäben. Insbesondere Infektionen der Atemwege seien mit Impfstoffen schwer vollständig zu blockieren, sagt Bodo Plachter, stellvertretender Direktor des Instituts für Virologie am Lehrkrankenhaus der Universität Mainz. Sie würden wohl dazu beitragen, die Menge des zirkulierenden Virus zu reduzieren. "Es kann durchaus sein, dass die Geimpften weniger Viren ausscheiden, das bremst die Pandemie," sagt er. "Es ist aber eine falsche Annahme, dass man die Pandemie allein aufgrund der Impfung wird verhindern können."

Professorin Riley von der Universität Edinburgh warnt daher, dass die Idee einer Herdenimmunität durch Covid-19-Impfungen wenig erfolgversprechend sein könnte. Ein besserer Ansatz sei, "die Herdenimmunität auf den Kopf zu stellen". Die ersten begrenzten Impfstoffvorräte könnten zum Schutz der am stärksten Gefährdeten eingesetzt werden, ohne sich um die robusteren Mitglieder der "Herde" zu sorgen, die das Virus relativ problemlos wegsteckten. "Vergessen wir den Schutz der Massen, um die Verletzlichen zu schützen", fordert sie. "Lasst uns die Verwundbaren direkt schützen." 

(Reuters)