Mitten auf der Brücke über den Chang Jiang in Wuhan hält die Fahrzeug-Kolonne von Angela Merkel. Die Kanzlerin steigt aus und lässt sich vom Vize-Gouverneur der chinesischen Provinz Hubei zeigen, wo Mao Tse-Tung vor mehr als 70 Jahren in den damals noch Jangtse genannten Fluss gesprungen ist. Dann erlaubt sich die deutsche Regierungschefin einen ungewöhnlichen Moment: Sie überquert die abgesperrte Strasse und posiert am Geländer der Brücke vor der beeindruckenden Wolkenkratzer-Kulisse der Elf-Millionen-Stadt für ein fast touristisch wirkendes Foto.

Bei ihrem Besuch in Wuhan Anfang September 2019 erlebt Merkel die chinesische Stadt als pulsierende, aufstrebende Wirtschaftsmetropole, fast dreimal so gross wie die deutsche Hauptstadt Berlin, aber kaum bekannt in Europa. Von einem neuartigen Coronavirus hat man zu diesem Zeitpunkt noch nichts gehört. Dennoch liegt in der persönlichen Erfahrung der Kanzlerin – nur wenige Monate bevor die Pandemie in Wuhan ihren Anfang nimmt – eine bisher unterschätzte Erklärung, warum Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Staaten bis heute relativ gut durch die Corona-Krise gekommen ist. Während andere Regierungschefs wie der britische Premierminister Boris Johnson oder US-Präsident Donald Trump die Gefahr der Pandemie für ihre Länder zunächst herunterspielen, ist Merkel von Anfang an die Dimension des Problems klar, wie mehrere Vertraute berichten.

Vorbereitet auf die Welle – durch den Blick nach China

Das zeigt sich, als im Januar die Coronavirus-Welle über Wuhan rollt und die Millionen-Stadt abgeriegelt wird. "Man kann sich davon überzeugen, mit welcher Dynamik hier gearbeitet wird", hatte die Kanzlerin bei ihrem Besuch bewundernd über das Leben in der Stadt gesagt. Sie war dort mit Studenten zusammen gekommen, hatte das chinesisch-deutsche Freundschaftskrankenhaus sowie ein Werk des deutschen Autozulieferers Webasto besucht und so einen ganz persönlichen Eindruck von der Grösse der Stadt bekommen.

Wenn das neuartige Virus diese unter Volldampf laufende Industriemetropole zu einem kompletten Stillstand zwingen konnte, musste es ernst sein, so habe die Kanzlerin die Situation bewertet, sagen enge Mitarbeiter. Auch deshalb habe sie einen schnellen Lockdown und weitreichende Tests befürwortet – beides Massnahmen, die inzwischen als grundlegend für die Bekämpfung des Virus in Deutschland gelten. "Wir waren mental vorbereitet, weil wir uns intensiver mit den chinesischen Verhältnissen beschäftigen als etwa die USA oder viele der europäischen Partner", sagt Siemens-Chef Joe Kaeser rückblickend zu Reuters. Er hatte Merkel zusammen mit anderen Wirtschaftsvertretern nach Wuhan begleitet.

Tatsächlich ist die Bundesregierung relativ gut informiert über das, was in China geschieht. Am 22. Januar telefoniert Merkel mit Chinas Präsident Xi Jinping – kurz bevor der völlige Shutdown für Wuhan angeordnet wird. Am 13. Februar empfängt die Regierungschefin den chinesischen Aussenminister Wang Yi für einen nicht öffentlich bekanntgegebenen Besuch im Kanzleramt. Deutschland schickt medizinische Hilfsgüter nach China – nur zwei Monate später folgt der Hilferuf in die andere Richtung.

Sensibilisiert für das Drama, das sich in Hubei entfaltet, überlässt Merkel zwar in der Öffentlichkeit zunächst Gesundheitsminister Jens Spahn das Feld, plädiert aber hinter den Kulissen früh für ein konsequentes Vorgehen in Deutschland. So mischt sie sich etwa Ende Januar in die Debatte um den Rückflug von 120 in Wuhan verbliebenen Deutschen ein und gibt die Richtung vor. Am 29. Januar nimmt die Kanzlerin, die inzwischen selbst den Kontakt zu Virologen gesucht hat, Gesundheitsminister Spahn, Aussenminister Heiko Maas und Kanzleramtschef Helge Braun nach der Kabinettssitzung zur Seite. Sie macht klar, dass sie aus Gründen des Infektionsschutzes eine zentrale Unterbringung will, inklusive einer 14-tägigen Quarantäne. Genauso wird es schliesslich gemacht.

Woche der Wende im März

Es hilft, dass eine Pandemie für Merkel kein unbekanntes Thema ist, genauso wenig wie für ihren Kanzleramtschef Braun, einen ausgebildeten Mediziner. Beide hatten sich bereits 2014 intensiv mit der Eindämmung der Ebola-Krise in Westafrika beschäftigt. Aus Sorge vor den Folgen einer weltweiten Pandemie setzte Merkel danach globale Gesundheitsthemen ganz oben auf die Agenda der folgenden deutschen G7- und G20-Präsidentschaften.

Vor allem ausländische Medien führen das relativ gute Abschneiden Deutschlands in der Corona-Krise auch auf die Kanzlerin zurück. Die "New York Times", die Merkel schon nach der Wahl von US-Präsident Trump als eigentliche Anführerin der liberalen westlichen Welt bezeichnet hatte, hebt ihre naturwissenschaftliche Ausbildung hervor und ihre Bereitschaft, auf Wissenschaftler zu hören. "Ich habe in den vergangenen drei Monaten viel von Merkel gelernt, wie man in Krisen agiert" sagt aber auch ein deutscher Ministerpräsident, der eigentlich nicht unbedingt zu ihren Fans gehört.

Dabei gerät die Kanzlerin in Deutschland selbst schon im Februar massiv in die Kritik, weil sie sich trotz der Dramatik im EU-Partnerland Italien kein einziges Mal zu Corona äussert. Anfang März steigen die Infektionszahlen in Deutschland stark an, auch durch Rückkehrer aus dem Skiurlaub in Südtirol und Österreich. Die Regierung gerät unter Zugzwang - und Merkel sorgt zusammen mit Braun und Spahn innerhalb einer einzigen März-Woche dafür, dass sich das Leben in Deutschland radikal ändert. Am 11. März tritt sie gemeinsam mit Spahn und dem Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, vor die Presse. Die Botschaft lautet: Ab jetzt ist der Gesundheitsschutz oberste Leitlinie aller Entscheidungen der deutschen Politik. Ganz nebenbei räumen die Kanzlerin und Finanzminister Olaf Scholz in den folgenden Tagen das von Union und SPD lange Jahre gehegte Ziel eines ausgeglichenen Haushalts beiseite – und machen damit das Ausmass der Krise deutlich.

Als Merkel am 12. März die 16 Ministerpräsidenten im Konferenzsaal im 1. Stock des Kanzleramtes empfängt, gibt es unter den Länderchefs immer noch verschiedene Meinungen, wie ernst die Krise zu nehmen ist. Doch die Kanzlerin hat vorgebeugt: Zunächst lässt sie den Virologen Christian Drosten, den RKI-Chef Wieler und den Chef der Charité, Heyo Kroemer, sprechen. "Als die drei ihre Vorträge hielten, war es mucksmäuschen still in der Runde – denn die Experten berichteten, dass die Krankenhäuser bei anhaltendem Tempo der Neuinfektionen schon im Juni überfordert sein könnten", beschreibt ein Teilnehmer die Stimmung. Als das Mediziner-Trio das Kanzleramt nach gut einer Stunde verlässt, sei auch dem letzten Ministerpräsidenten klar gewesen, dass nur noch eine konsequente Einschränkung des öffentlichen Lebens das Virus eindämmen könnte. Schulen und Kitas werden geschlossen.

14 Tage in Quarantäne

Daneben setzt Merkel Zeichen in ihrer eigenen Arbeit – weil sie in ihrer Rolle als Kanzlerin auch eine Vorbildfunktion sieht, wie sie Vertrauten gegenüber äussert. Mit Wirkung vom 16. März streicht sie alle Staatsbesuche und wechselt zu virtuellen Treffen mit ihren internationalen Kollegen. Szenen wie Trump, der immer noch Hände schüttelt, erlaubt sie sich nicht. Am selben Tag vereinbaren Bund und Länder per Telefonkonferenz die dramatischsten Einschränkungen des öffentlichen Lebens seit Bestehen der Bundesrepublik.

Zwei Tage später entschliesst sich die Kanzlerin zur ersten Fernsehansprache ihrer 15-jährigen Amtszeit ausserhalb der traditionellen Auftritte zu Silvester. Rund 25 Millionen Zuschauer verfolgen vor den Bildschirmen, wie Merkel in ernsten Tönen die Grösse der Krise beschreibt und an die Disziplin aller appelliert. "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt", sagt sie. Gerade weil Merkel als eher nüchternd gilt, hat diese Emotionalität eine durchschlagende Wirkung.

Wie ernst sie das Thema auch persönlich nimmt, wird klar, als ihr am 22. März nur Minuten nach einer Pressekonferenz mitgeteilt wird, dass der Arzt, der sie zwei Tage zuvor gegen Pneumokokken geimpft hat, positiv auf Corona getestet wurde. Merkel begibt sich sofort für 14 Tage in häusliche Quarantäne – die sie trotz dreier negativer Tests nicht vorzeitig verlässt. Ihr Vorbild soll die Akzeptanz für die Massnahmen gegen das Virus erhöhen, die sie selbst als nötige Schritte, wegen der Einschränkung von Grundrechten aber auch als "demokratische Zumutung" bezeichnet. Offenbar trifft sie mit diesem Vorgehen den Nerv einer verunsicherten Bevölkerung. Merkels Zustimmungswerte schiessen in die Höhe und erreichten in Umfragen Werte von mehr als 80 Prozent – gut ein Jahr vor ihrem angekündigten Ausstieg aus der Politik. Boulevardzeitungen wie die "Bild" fragen, ob die CDU-Politikerin nicht doch für eine fünfte Amtszeit bleiben könne. CDU und CSU klettern in den Folgewochen in Umfragen teilweise auf 40 Prozent.

Natürlich helfen Deutschland einige glückliche Umstände im Kampf gegen Corona: Anders als in Italien breitet sich das Virus nicht unbemerkt aus. Die ersten Infektionsfälle beim bayerischen Autozulieferer Webasto Ende Januar wirkten wie ein Weckruf für das gesamte Gesundheitssystem in Deutschland. "Wir hatten die Gnade der späten Ansteckung", beschrieb ein Regierungsbeamter damals die Lage mit Verweis auf Italien und Frankreich, zu denen das Virus wegen der Direktflüge nach Wuhan als erste in Europa kommt. Die Krise trifft Deutschland zudem in einer guten Lage mit soliden Staatsfinanzen und ausreichend Krankenhaus-Kapazitäten mit 28.000 Intensivbetten – mehr als andere grosse EU-Staaten zusammen haben. Tatsächlich gerät das Gesundheitssystem nie an seine Belastungsgrenzen.

Mannschaftsspiel statt Solistin

Dazu kommt, dass der Kampf gegen Corona von Anfang an eine Team-Anstrengung ist, heisst es in Regierungskreisen. Mit Kanzleramtschef Braun als Strippenzieher mehr im Verborgenen und Gesundheitsminister Spahn vor den Kulissen hatte Merkel zentrale Mitstreiter in der Krise – ebenso mit Finanzminister Scholz. Auch Bund und Länder, Regierung und Opposition rücken zusammen und beschliessen gemeinsam die ersten Rettungspakete. Weil im förderalen Deutschland fast alle wichtigen Kompetenzen bei den Ländern liegen, muss sich Merkel in einen Dauerabstimmungs-Marathon mit den Ministerpräsidenten begeben. Aber gerade die ewige Konsenssuche, für die Merkel bei ihrer Amtsführung immer wieder kritisiert wird, erweist sich in dieser Krise als wirksam, erkennen sogar Ministerpräsidenten anderer Parteien an.

Während die Öffentlichkeit vor allem Unterschiede zwischen den Ländern wahrnimmt, bilanziert Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet gegenüber Reuters rückblickend: "Trotz aller Diskussionen über Einzelmassnahmen haben Bund und Länder durch die ganze Krise erstaunlich geschlossen an einem Strang gezogen." Und die Reihen schliessen sich überall: Als es bei der Versorgung mit Schutzmasken aus China hakt, bieten Unternehmen mit engen Kontakten in die chinesischen Provinzen ihr Hilfe an. Und Kanzleramtschef Braun nennt noch einen anderen, aus seiner Sicht unterschätzten Faktor: "Die deutsche Bevölkerung hat einfach sehr diszipliniert reagiert", sagt er Reuters. Beschränkungen würden weitgehend umgesetzt.

Aber auch Deutschland macht Fehler. Schutzanzüge, Masken und Desinfektionsmittel werden anfangs knapp. Viel zu spät fängt Deutschland an, sich hier um Nachschub zu kümmern, gibt Gesundheitsminister Spahn später zu. Inmitten der heftigen Debatte erlässt die Bundesregierung vorübergehend eine Ausfuhrbeschränkung für medizinische Güter, ohne gross an die Wirkung auf die EU-Partner zu denken, und erntet damit wütende Kommentare etwa aus Italien. Das sei ein Fehler gewesen, räumt Merkel später ein: "Damit haben wir uns zum Teil auch ins eigene Fleisch geschnitten, weil wir dann gemerkt haben, wie abhängig wir von Zulieferungen sind."

Am Ende europäisch und multilateral

Erst im April, als Bund und Länder den Eindruck haben, dass die Lage in Deutschland einigermassen unter Kontrolle ist, kümmert man sich stärker um die EU-Nachbarn. Nun nimmt Deutschland Corona-Patienten aus anderen EU-Staaten in nicht ausgelastete Krankenhäuser auf. Mit Finanzminister Scholz erklärt sich Merkel sich im Mai schliesslich zur Überraschung etwa der Italiener zu EU-Zuschüssen in dreistelliger Milliardenhöhe für besonders betroffene Corona-Länder bereit.

Die Regierung setzt nun wieder ganz auf die europäische und multilaterale Karte. Den schrittweisen US-Rückzug aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kontert Deutschland mit erhöhten Zahlungen und der Mitorganisation einer Geberkonferenz für die Entwicklung eines Corona-Impfstoffes. Dem Versuch von US-Präsident Trump, China und der WHO den Schwarzen Peter in der Krise zuzuschieben, bietet Merkel die Stirn. "Die Weltgesundheitsorganisation ist die legitimierte globale Institution, bei der die Fäden zusammenlaufen", sagt Merkel Mitte Mai bei einer WHO-Tagung. Das Virus könne man nur gemeinsam bekämpfen. Die Herangehensweisen von Deutschland und den USA seien völlig anders, konstatiert Thomas Kleine-Brockhoff, stellvertretender Präsident des German Marshall Fund, der sich um transatlantische Beziehungen kümmert. "Es ist der Unterschied zwischen Nationalismus und Internationalismus."

Dem Vorwurf Trumps, China habe das Virus verharmlost, schliesst sich Merkel ebenfalls nicht an – obwohl auch in der Bundesregierung Defizite in der Informationspolitik der kommunistischen Regierung gesehen werden. "Aber insgesamt hatten wir nicht den Eindruck, dass China im Januar wirklich über die Gefahr des Virus hinwegtäuscht hatte", sagt ein Regierungsvertreter mit Blick auf die drastischen Massnahmen etwa in Wuhan. Mittlerweile richtet sich der Blick erneut auf die zentralchinesische Wirtschaftsmetropole, auf die Merkel im September von der Brücke über den Chang Jiang aus geschaut hat. Denn auch bei der Rückkehr zu einem halbwegs normalen Wirtschaftsleben ist China um einige Wochen voraus.

(Reuters)