cash: Herr Lespinard, die Renditen der spanischen Staatsanleihen sind nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien gestiegen. Die Märkte sind offenbar besorgt.

Philippe Lespinard: Als Eigentümer von spanischen Staatsanleihen ist man natürlich verunsichert und stellt sich Fragen: Wer würde bei einer Unabhängigkeit Kataloniens die Schulden der spanischen Anleihen zurückzahlen? Wäre dies Katalonien mit einem Anteil von vielleicht 20 Prozent und Spanien mit 80 Prozent?  Es ist klar, dass die Risikoprämien steigen.  

Die Renditen müssten unter diesen Voraussetzungen doch deutlicher steigen?

Ja, aber ich bin ziemlich sicher, dass die Europäische Zentralbank nun vermehrt spanische Staatsanleihen aufkauft, um dem Renditeanstieg Einhalt zu gebieten. Die EZB hatte dies ja auch im Vorfeld der Wahlen in Frankreich getan, um den französischen Anleihemarkt zu stabilisieren.

Könnte die Verfassungskrise in Spanien auch das Wirtschaftswachstum des Landes tangieren?

Da sehe ich nicht so grosse Gefahren. Die primären Risiken sehe ich darin, ob andere Verpflichtungen eingehalten werden können, zum Beispiel diejenigen von Zusammenarbeit und Sicherheit. Die Regierung in Katalonien könnte ja keine spanische Polizei mehr akzeptieren. Aber sehen Sie: Die letzten grossen Terrorattacken passierten in Katalonien, wo es offenbar ein Dschihadisten-Netzwerk gab. Da stellen sich Fragen nach der Aufrechterhaltung der Sicherheit.

Hätte die spanische Regierung anders vorgehen können beim Referendum?

Die Regierung hätte ein Referendum ähnlich wie in Grossbritannien mit Schottland oder in Kanada mit Québec aufgleisen können. Und die Losung ausgeben: Wenn ein Referendum abhalten, dann richtig. Da hätte es durchaus passieren können, dass die Mehrheit der Bevölkerung Kataloniens eine Unabhängigkeit ablehnt.  Aber nach den schier unglaublichen Szenen am letzten Sonntag ist es jetzt natürlich zu spät dafür.

In der Eurozone herrscht sonst verbreitet Optimismus, konjunkturell geht es aufwärts. Ist der Optimismus aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

Die Geschäftserwartungen kleiner Unternehmungen in Europa haben sich ziemlich verbessert. Und diese Geschäftserwartungen sind ein Vorlaufindikator für spätere Investitionen. Es gibt keinen Inflationsdruck, und die Beschäftigungszahlen steigen. Eine Studie besagte auch kürzlich, dass die Eurozone in den letzten zehn Jahren mehr Jobs geschaffen hat als die USA.

Der Euro hat zwischenzeitlich deutlich zugelegt. Hauptsächlich als Folge der wirtschaftlichen Erholung?

Der Euro hat vor allem wegen der Exportüberschüsse der Eurozone zugelegt. Das generiert Kapitalzuflüsse und stärkt die Währung. Dann profitiert der Euro aber auch davon, dass US-Präsident Donald Trump kaum eines seiner Wahlversprechen, die den Dollar nach seiner Wahl aufgewertet hatten, einlösen konnte.

Aber die grundlegenden politischen Probleme in der Eurozone bleiben. Die Wahlen in Italien im nächsten Frühling könnten die nächste grössere Belastung bringen.

Ja, denn es ist möglich, dass Silvio Berlusconi und seine Partei gewinnen. Als er während der Krise der Eurozone bis 2011 an der Macht war, wurde er von anderen europäischen Ländern als existenzielle Bedrohung für die Eurozone gesehen. Niemand in der Eurozone wollte etwas mit ihm zu tun haben. Seine politischen Leistungen waren ja enttäuschend. Es ist ein Rätsel, weshalb die Italiener ihn wieder zurückhaben wollten. 

Wie sehen Sie die Zukunft Italiens?

Italien kommt gerade aus einer langen Rezession heraus. Es müssen aber erhebliche strukturelle Verbesserungen in die Wege geleitet werden, damit Italien nicht eine verlorene Generation hervorbringt. Seit rund sieben Jahren verlassen sehr viele junge Italiener ihre Heimat. Je besser sie ausgebildet sind, desto mehr trifft dies zu. Wer bezahlt dann jetzt und später die Pensionen und die Steuern? Wer gründet Unternehmen und wer schafft somit Arbeitsplätze? Interessanterweise ist Italien ja ein reiches Land. Arm an Einkommen zwar, aber im Schnitt sind die Haushalte reich an Vermögen. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Leute einkommensreich sind und einen hohen Lebensstandard pflegen. Die Privathaushalte besitzen jedoch relativ wenig. In Deutschland wohnen mehr  zur Miete und besitzen daher weniger Immobilien.

Wie sehen Sie den Fahrplan der Europäischen Zentralbank aus der ultralockeren Geldpolitik?

Wir wissen, dass die EZB die Anleihekäufe reduzieren und dann beenden wird. Die nächsten Fragen sind: Wann wird sie die Leitzinsen erhöhen und wann beginnt sie mit dem Abbau ihrer Bilanz? In den USA sind zwischen dem Ende des 'Quantitative Easing' und der ersten Zinserhöhung zwei Jahre verstrichen. Wir sind der Meinung, dass es in Europa nicht so lange dauern wird. Zum einen, weil die Zinsen in Europa, im Gegensatz zu den USA, negativ sind. Die EZB-Verantwortlichen sind sich bewusst, dass durch Negativzinsen Verzerrungen entstehen und dass Negativzinsen eine Belastung für die Finanzinstitute darstellen. Falls die Zinsschritte der EZB Spannungen an den Märkten auslösen sollten, wird sie wohl wieder auf ihr Anleiheaufkaufprogramm zurückgreifen. Zum anderen hat Mario Draghi alles Interesse daran, dass er seinem Nachfolger keine Eurozone in Notfallage übereichen will.

Mario Draghi wird im Oktober 2019 abtreten. Glauben Sie, dass ein Notenbankchef zum Beispiel aus Deutschland mit einer entsprechend strafferen Geldpolitik der jahrelangen Rallye an den Börsen ein Ende bereiten könnte?

Die EZB hat sehr sorgfältig durchkonstruierte Strukturen, wie sie Geldpolitik betreibt. Die Mitgliedsnotenbanken liefern ihr Studien, Analysen und Informationen aus den einzelnen Ländern. Die Vorstellung, dass diese Rahmenbedingungen bloss durch den Wechsel der Präsidentschaft stark geändert würden, erachte ich als unwahrscheinlich.