Als sich SPD-Präsidium und -Vorstand auf die neue Partei-Doppelspitze einigten, stand ein Name nicht auf dem Zettel - der von Olaf Scholz. Nur einen knappen Monat vor seiner erhofften Wahl zum Bundeskanzler einer Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP akzeptiert Scholz damit etwas, was seine Vorgänger und Vorgängerin auf keinen Fall hinnehmen wollten: die Trennung von Kanzleramt und Parteivorsitz.
Stattdessen wurden in den SPD-Gremien am Montag die bisherige Co-Vorsitzende Saskia Esken und Generalsekretär Lars Klingbeil als kommende Doppelspitze vorgeschlagen. Er selbst wolle sich auf die Bildung der Regierung und dann die Kanzlerschaft konzentrieren, hatte Scholz vor gut einer Woche am Rande des G20-Gipfels in Rom abgewinkt.
Dabei teilten zumindest Angela Merkel, Gerhard Schröder und Helmut Kohl eine andere Philosophie: Stabil kann die Macht an der Spitze der Regierung nur gehalten werden, wenn man auch die Fäden der eigenen Partei zusammenhält, lautete ihr Credo. Gerade erst hat Merkel nach 16 Jahren Amtszeit in einem Interview betont: "Ich bin auch heute noch der Meinung, dass im Grundsatz Parteivorsitz und Kanzleramt in einer Hand liegen sollten." Sie selbst habe 2018 den Parteivorsitz nur abgegeben, "weil ich entschieden war, 2021 nicht wieder zur Bundestagswahl anzutreten". Dass ihre Vorgänger Schröder 2004 den SPD-Parteivorsitz abgab, sei der Anfang seines politischen Endes gewesen, hatte Merkel schon vor Jahren gesagt.
Tatsächlich war bei Merkel und Schröder die Abgabe des Parteivorsitzes Vorbote des kommenden oder schon erlittenen Machtverlusts. Schröder konnte nach seiner umstrittenen Agenda 2010-Reform die SPD nur ruhig halten, indem er den SPD-Vorsitz an Franz Müntefering abgab - auch wenn er damals behauptete, sich "noch intensiver um Regierungsangelegenheiten kümmern" zu müssen. Krisen-Kanzlerin Merkel reagierte 2018 mit ihrem Rückzug ebenfalls auf die enormen Spannungen in der CDU nach der Flüchtlingskrise - auch weil sie kaum Zeit hatte, sich um die Partei zu kümmern.
Kein Parteivorsitz – aus der Not eine Tugend gemacht
Dieses Problem hat Scholz nicht - weil er es nie an die Parteispitze schaffte. Die jetzige Ämterteilung ist Folge davon, dass er Ende November 2019 im Rennen um den Parteivorsitz unterlag. Allerdings: Seit der ehemalige Hamburger Erste Bürgermeister am 10. August 2020 auf Vorschlag der zuvor siegreichen Parteichefs Esken und Norbert Walter-Borjans zum Kanzlerkandidat gekürt wurde, gelang das Zusammenspiel erstaunlich gut - so sehr, dass die SPD in ungewohnter Geschlossenheit die Bundestagswahl gewann.
Vergeblich warteten CDU und CSU darauf, dass sich Kandidat und Partei zerlegen würden wie dies vier Jahre zuvor bei Peer Steinbrück passiert war. "Aus der Not wurde eine Tugend: Das war ein Probelauf für die SPD, dass die Trennung funktionieren kann", sagt Julia Reuschenbach, Politikwissenschaftlerin an der Universität Bonn, zu Reuters. "Es wäre jetzt nicht sinnvoll gewesen, wenn Scholz den Schröder gemacht hätte", fügte sie in Anspielung auf den früheren "Basta"-Kanzler hinzu. Die Befriedung der SPD sei gerade dadurch gelungen, dass Scholz sich als Teamspieler gezeigt habe und der linke Flügel sich ernst genommen fühlte.
Kanzleramt nur eines von drei Machtzentren
"Nur ist Wahlkampf etwas anders als eine Kanzlerschaft", macht man sich jetzt in der Union Mut. Dort setzt man darauf, dass die von Scholz, Esken und Klingbeil beschworene Einheit im Regierungsalltag zerbröseln wird. Denn dann muss sich Scholz in einem Machtdreieck mit Kanzleramt, Partei und Fraktion behaupten.
"Es gibt ein neues Kraftzentrum, das Kanzleramt", erkannte auch SPD-Co-Chef Walter-Borjans am Montag an. Und es ist keineswegs so, dass Scholz etwa mit SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich in allen aussenpolitischen Fragen übereinstimmen würde. Gerade bei Auslandseinsätzen und Haushaltsfragen ist ein Kanzler aber von der eigenen Fraktion abhängig - die als potenziell "linker" gilt als zuvor.
Dennoch glaubt nicht nur Reuschenbach, sondern auch der Politologe Gero Neugebauer, dass das Scholz-Experiment erfolgreich sein kann. "Das liegt etwa an der Verlässlichkeit eines Parteichefs Klingbeil", sagt er zu Reuters. Klingbeil sei ein guter Organisator, aber nicht der Typ, der einen Gegenentwurf zur Regierungspolitik formuliere. Wegen seiner Nähe zu Kevin Kühnert könne Klingbeil sogar als "Puffer" für Angriffe auf Scholz wirken. Zudem sei die Differenz zwischen Partei und Kandidat tatsächlich geschrumpft. Scholz habe klassisches SPD-Vokabular wie soziale Gerechtigkeit übernommen und im Wahlkampf für zwölf Euro Mindestlohn geworben.
Auch könne man die Lage nicht mit Union vergleichen, sagt Neugebauer. Merkel habe gerade den Fehler gemacht, dass sie als Parteichefin die CDU bei zentralen Fragen wie der Flüchtlingspolitik nicht mitgenommen habe. Eigenständige Regierungsparteien müssten aber wie Ventile für den Frust der Parteimitglieder funktionieren, dass man in der Regierung kein reine Lehre mehr vertreten könne, heisst es in der SPD. Deshalb plädiert der scheidende Co-Parteichef Walter-Borjans dafür, dass auch die neuen Doppelspitze gar nicht erst in ein Kabinett Scholz eintreten sollte.
Im übrigen werde ein Parteichef für zwei Jahre gewählt, betont Reuschenbach. "In zwei Jahren können Scholz und die SPD immer noch überlegen, ob sie etwas anders machen sollten."
(Reuters)