"Sicher... und ziemlich", antwortete Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwoch, als er in einem Interview gefragt wird, ob er eigentlich Führung zeige. Doch seit Tagen muss sich Scholz von den Befürwortern von Waffenlieferungen an die Ukraine und Energiesanktionen gegen Russland vorhalten lassen, er zeige genau diese Führung nicht. Nicht nur die Opposition prügelt auf ihn ein - auch wichtige Ampel-Parlamentarier erwecken den Eindruck, das Kanzleramt sei der Hort des Zögerns und Zauderns in der Ukraine-Politik.

Scholz findet das unfair - denn zu seiner Rolle und Verantwortung als Kanzler gehöre nun einmal, Entscheidungen sehr sorgfältig abzuwägen und die Folgen zu bedenken. "Manchen von diesen Jungs und Mädels muss ich mal sagen: Weil ich nicht tue, was ihr wollt - deshalb führe ich", sagte er im rbb-inforadio. Tatsächlich hatte der SPD-Politiker mit seiner "Zeitenwende"-Rede im Bundestag wegweisende Politikveränderungen wie Waffenexporte an die Ukraine oder das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr verkündet - auch zur Verblüffung vieler Ampel-Politiker.

Erinnerungen an die Ära Merkel

Dennoch erinnert die derzeitige Lage des Kanzlers an seine Vorgängerin Angela Merkel. Auch diese musste sich 16 Jahre lang vorhalten lassen, sie würde zu wenig "führen". Laut einer neuen Forsa-Umfrage zeigen sich 48 Prozent unzufrieden mit der Arbeit von Scholz und nur 40 Prozent zufrieden. Im März hatte es noch eine Zustimmung von 60 Prozent gegeben.

Mitverantwortlich ist daran selbst nach Einschätzung von mehreren Quellen aus Regierungskreisen der typische Kommunikationsstil des Kanzlers: Der frühere Hamburger Bürgermeister ist eher ein Mann der leisen Töne, weicht bei unangenehmen Fragen gerne aus und sieht seine Rolle als Kanzler auch darin, die sehr heterogene Koalition aus SPD, Grünen und FDP zusammenzuhalten. Kurzfristige Sympathieeinbrüche hält er für überbewertet und reagiert darauf nicht.

Aber schon nach etwas mehr als 100 Tagen Regierungszeit und internationaler Großkrisen murren auch SPD und Grüne, dass der Kanzler um des Koalitionsfriedens willen etwa in der Corona-Politik viel zu viele Positionen der FDP geschluckt habe. Und in der Ukraine-Politik schlagen angesichts der Dramatik der Lage nach dem russischen Angriff die Emotionen besonders hoch.

Ein Kanzler in Abwehrstellung

Denn Scholz kämpft hier einen Allfronten-Abwehrkampf. In Regierungskreisen wird zwar ständig darauf verwiesen, wie harmonisch das Kabinett gerade mit Vizekanzler Robert Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock (beides Grüne), Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) in dieser Krise zusammenarbeite - auch beim Thema Waffenlieferungen. Aber in der Öffentlichkeit entsteht zumindest ein anderer Eindruck. Denn auch Baerbock hatte Anfang der Woche die Lieferung von "schweren Waffen" gefordert und dabei "Kreativität und Pragmatismus" verlangt.

Zwar wurde danach in der Regierung eilig betont, Baerbock habe damit auf keinen Fall das Kanzleramt oder das Verteidigungsministerium gemeint. Aber in der Öffentlichkeit und selbst in den Ampel-Fraktionen entsteht der von den Grünen durchaus geförderte Eindruck, dass Baerbock und Habeck klarer in ihren Positionen seien. Im ZDF-Politikbarometer schnellten beide Grüne in der Wählergunst an Scholz vorbei. Dabei gerät in Vergessenheit, dass ausgerechnet Baerbock und Habeck die Einschätzung teilen, dass ein sofortiges Gasembargo gegen Russland zu schwerwiegenden Auswirkungen auf die deutsche und europäische Wirtschaft hätten.

Moralischer Druck gegen kühles Abwägen

Gegenwind bekommt Scholz im Parlament: Dass der Kanzler Widerstand der Union zu spüren bekommt, gehört dabei zum Rollenspiel zwischen Regierung und Opposition. Aber dazu kommt, dass sich in der betont harmonisch gestarteten Ampel-Regierung nun auch persönliche Befindlichkeiten zeigen - vor allem bei denen, die bei der Koalitions-Bildung zu kurz kamen. Sowohl Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) als auch Anton Hofreiter (Grüne), die jetzt täglich vehementer mangelnde Führung des Kanzleramts in der Ukraine-Politik kritisieren, waren von ihren Parteien bei der Auswahl für das Kabinett übergangen worden. Das schmälert die Loyalität.

Zudem stehen Strack-Zimmermann, Hofreiter und der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, unter dem Eindruck ihrer Reise in die Ukraine mit bewegenden Treffen etwa mit schwerverletzten ukrainischen Soldaten. Scholz argumentiert dagegen, dass er bei aller Emotion und Solidarität mit der Ukraine als Kanzler das große Ganze kühl abwägen muss - etwa, dass die Nato und Deutschland auf gar keinen Fall Kriegspartei in der Ukraine werden dürften. "Denn auch das erwarten sehr viele Bürger vom Kanzler", wird in Regierungskreisen betont. Dazu kommt ein für Scholz schwieriges internationales Umfeld.

Zwar teilt US-Präsident Joe Biden seine Vorsicht und verweigert etwa die Lieferung polnischer MIG29-Kampfjets an die Ukraine. Aber gleichzeitig teilt man im fernen Washington nicht die deutschen Geheimhaltungswünsche bei Waffenlieferungen. Am Mittwoch wurde eine Liste veröffentlicht, welches Militärmaterial man für 800 Millionen Dollar liefern wolle. Das lässt die Bundesregierung schlecht aussehen - obwohl selbst Strack-Zimmermann nach Einsicht der als geheim eingestuften Unterlagen sagte, dass der deutsche Beitrag für die Ukraine sehr beträchtlich sei. "Nur ist die Kommunikation der Regierung darüber so überschaubar, dass sich der Eindruck festsetzen konnte, Deutschland werde seiner Verantwortung nicht gerecht", kritisierte sie.

Zur Verärgerung Berlins verstecken sich nach Angaben aus Regierungskreisen zahllose EU-Partner etwa bei der Ablehnung eines Gasboykotts hinter Deutschland und dem Kanzler - dabei hat nicht einmal die Ukraine die Durchleitung russischen Gases gestoppt, für die sie Transitgebühren von Russland bezieht.

(Reuters)