"Nur der Sozialismus kann China retten." Als Xi Jinping dies Ende 2012 bei der Übernahme der Führung der Kommunistischen Partei verkündete, hielten das viele nur für die Wiederholung eines Kampfrufes: nicht zeitgemäss, nicht wörtlich zu nehmen in einer modernen, marktorientierten Wirtschaft.
Doch Xis heutige Massnahmen - von Razzien gegen Internetfirmen bis zum Kampf gegen Onlinespiele und Exzesse auf dem Immobilienmarkt - zeigen, dass der seit 2013 amtierende chinesische Präsident des ernst meint. Mit der Ausrufung des "gemeinsamen Wohlstandes" führt Xi die Volksrepublik zu ihren sozialistischen Wurzeln zurück.
Seit 2018 die Beschränkung seiner Regierungszeit aufgehoben wurde, treibt Chinas mächtigster Staatslenker seit Mao Zsedong das voran, was manche Beobachter Mini-Revolutionen nennen: die Beschneidung der Auswüchse des Kapitalismus und die Eindämmung unliebsamer kultureller Einflüsse des Westens. Das reicht von Lehrplänen für die Schulen über eine striktere Regulierung des Immobilienmarktes bis hin zum Druck auf all das, was die Regierung als ungesunde Unterhaltung erachtet. Die Finanzmärkte zeigen sich durch dieses Vorgehen derart erschüttert, dass die Führung in Peking und mit ihr die staatlichen Medien sich veranlasst sehen, die Investoren zu beruhigen.
So versicherte erst am Mittwoch die staatliche "Volkszeitung", dass sich an der Unterstützung der Regierung für den Privatsektor nichts geändert habe. Die jüngsten Regulierungsmassnahmen sollten die "Marktordnung korrigieren", den fairen Wettbewerb fördern sowie Verbraucherrechte und "das sozialistische Marktwirtschaftssystem" schützen.
Xi geht soziale Ungleichheit an
"Xi möchte ein sehr aktuelles Thema ansprechen, nämlich wie die neoliberalen Reformen für mehr Ungleichheit in China gesorgt haben", sagt Rana Mitter, Professorin für chinesische Geschichte und Politik an der Universität Oxford. "Und Xi will den Geist einer Mission wiederbeleben, der das frühe maoistische China gestaltet hat." Werden die soziale Ungleichheit sowie der enorme Reichtum und die Macht, die sich beide in einigen Industriebereichen bündeln, nicht gebändigt, könnte dies Analysten zufolge die Stabilität der Gesellschaft bedrohen und letztlich die Legitimität der Partei untergraben.
Der Zeitpunkt der Reformen spiegelt die Zuversicht wider, dass China seine Schwierigkeiten durch das eigene Hybridsystem selbst lösen kann, anstatt dem Modell des Westens zu folgen. Dessen Mängel listet die chinesische Führung immer wieder als Beweis für den Verfall des Systems auf: der Umgang mit dem Coronavirus, die chaotische Präsidentenwahl in den USA, der Rückzug des Westens aus Afghanistan. "Das Modell der Staatskontrolle schien China im Kampf gegen Corona gute Dienste zu leisten", sagt Chen Daoyin, ein in Chile ansässiger politischer Kommentator, der ausserordentlicher Professor an der Shanghaier Universität für Politikwissenschaften und Recht war.
Xi sei zuversichtlich, dass er ein Gleichgewicht zwischen Regierung und Märkten, zwischen Macht und Kapital herstellen könne, sagt Chen. "Die Gefahr besteht darin, dass der Staat nicht widerstehen kann, seine sichtbare Hand auszustrecken." Das schaffe Unkalkulierbarkeit und ein politisches Risiko für das Kapital. So hat die Hongkonger Börse, an der zahlreiche chinesische Technologiekonzerne, die von der Razzia betroffen sind, seit Juli mehr als 600 Milliarden Dollar an Wert verloren.
«Xi will als Retter der KP in Geschichte eingehen»
Mit seinem Aktionismus und Populismus demonstriert Xi auch seine Zuversicht, dass er es sich leisten kann, Eliten zu vergrätzen, die auf der falschen Seite stehen. Der Präsident positioniert sich für eine dritte fünfjährige Amtszeit, ohne das es eine erkennbare Konkurrenz gäbe. Doch Xis Kalkül gehe noch darüber hinaus, sind Fachleute überzeugt. "Xi ist ein ehrgeiziger Staatsführer mit einer grossen Vision", sagt Yang Chaohui, Politikwissenschaftler an der Universität Peking. "Er möchte in die Geschichte als der Mann eingehen, der die Partei gerettet und China stark gemacht hat."
Unter Mao, der 1976 starb, zielte die Parteidoktrin darauf ab, die Menschen von der Ausbeutung durch das Kapital zu befreien. Privateigentum sollte abgeschafft und der US-Imperialismus besiegt werden. Nach der Absetzung der Viererbande vollzog der Pragmatiker Deng Xiaoping 1978 die Wende und erlaubte den Marktkräften ihre Entfaltung. Es wurden Produktionsanreize geschaffen und ein vier Jahrzehnte währendes halsbrecherisches Wirtschaftswachstum entfesselt. Dadurch wurde ein immenses Vermögen angehäuft - zugleich entstand eine tiefe Ungleichheit in der Gesellschaft.
Mit gefestigter Macht der KP im Rücken treibt Xi Reformen an
Dass Xi seit seinem Amtsantritt seine Macht gesichert hat, erlaubt ihm, in diesem Sommer seine Reformen voranzutreiben. So hat er einen umfassenden Kampf gegen die Korruption aufgenommen und den Raum für öffentlich ausgetragene Meinungsunterschiede beschnitten. Die Macht der KP, mit Xi im Zentrum, ist in allen Bereichen der Gesellschaft gefestigt.
Mit dieser Macht im Rücken geht Xi eine ganze Reihe gesellschaftlicher Probleme an. Dies reicht von Familien, die nicht genügend Kinder haben, über eine ungesunde Fokussierung auf Bildungserfolge bis hin zu jungen Erwachsenen, die unter ihrem Stress zusammenbrechen. Nun hindern neue Regeln die jungen Leute daran, zu viel Zeit mit Online-Spielen zu verbringen.
"Xi schickt sich an, die Probleme anzugehen, die das einfache Volk ängstigen - wie zum Beispiel korrupte Beamte und die Kluft zwischen Arm und Reich", sagt Chen. Während viele in China skeptisch sind, ob es der Führung in Peking tatsächlich gelingt, dass die Menschen mehr Kinder bekommen oder Wohnungen in Grossstädten billiger werden, stossen andere Massnahmen auf Wohlwollen. Viele Eltern begrüssen Erleichterungen bei der Bildungslast und das nun auf drei Stunden pro Woche begrenzte Zeitfenster für Online-Spiele für Kinder. "Xis Einsatz für das gemeine Volk gibt ihm eine moralische Grundlage, seine Autorität innerhalb der Partei zu festigen, und macht es seinen politischen Gegnern schwer ihn anzugreifen", resümiert Chen. "Wer kann schliesslich gegen soziale Gleichheit sein?"
(Reuters)