Doch in Umfragen liegen seine Liberalen nur noch Kopf-an-Kopf mit den Konservativen von Erin O'Toole (48). Trudeau droht inzwischen gar der Verlust der Regierung. Es folgen Hintergründe rund um die Wahl.

WARUM JETZT?

Bei der Parlamentswahl 2019 wurden die Liberalen zwar erneut stärkste Kraft, verloren aber ihre absolute Mehrheit, die Trudeau 2015 ins Amt gebracht hatte. Er führt seitdem eine Minderheitsregierung und ist deswegen auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen. Im August rief er die Neuwahl aus, als er in Umfragen noch klar in Führung lag. Er hoffte, Kapital aus seinem Corona-Krisenmanagement zu schlagen. Sein Argument: Die Pandemie habe auf das Land eine so drastische Auswirkung gehabt wie der Zweite Weltkrieg. Das Wahlvolk solle deshalb jetzt neu entscheidenden, wer die nächsten wichtigen Zukunftsentscheidungen fällt.

WAS IST PASSIERT?

Nachdem Trudeau die Neuwahl angesetzt hatte, verpuffte der komfortable Vorsprung in den Umfragen binnen weniger Wochen. Viele Kanadier zeigten kein Verständnis dafür, dass der Regierungschef ausgerechnet im Anrollen einer vierten Corona-Welle zu den Urnen rief. O'Toole, der die Konservativen seit gerade einmal etwas mehr als einem Jahr anführt, warf ihm vor, persönliche Ambitionen vor das Wohl der Bevölkerung zu stellen. Er charakterisierte Trudeau als einen machtbesessenen, selbstsüchtigen und skandalumwitterten Partygänger.

Für einige Kanadier scheint aber nach sechs Jahren auch grundsätzlich der Zeitpunkt für einen neuen Regierungschef gekommen. Die Folge: ein rasanter Umfragen-Aufstieg der Konservativen. Trudeau gelang es erst, diesen zu bremsen, nachdem er O'Toole wegen dessen Corona-Politik anging und ihm eine zu grosse Nähe zur Waffenlobby vorwarf. Unterdessen bekamen die Sozialdemokraten immer mehr Zulauf. Ihr Parteichef Jagmeet Singh erhält inzwischen bessere Beliebtheitswerte als Trudeau und O'Toole. Am Ende könnte er sich als Königsmacher entpuppen.

WIRTSCHAFT

Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die nächste Regierung die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise zu überwinden gedenkt, Wachstum ankurbelt, steigende Lebenshaltungskosten in den Griff bekommt und Jobs schafft. Im Kampf gegen die Pandemie haben die Liberalen Schulden in Höhe von einer Billion Kanadischer Dollar (etwa 672 Milliarden Euro) angehäuft und das Haushaltsdefizit auf ein Niveau getrieben wie zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Im Wahlkampf haben sie versprochen, weitere 78 Milliarden Kanadische Dollar über fünf Jahre bereitzustellen. Trudeau peilt zudem eine neue Steuer auf Gewinne von Banken und Versicherern an. Auch O'Toole hat Neuausgaben angekündigt, gleichzeitig will er das Defizit schneller abbauen als die Liberalen.

IMPFPFLICHT, KINDERBETREUUNG, IMMOBILIENPREISE UND KLIMA

Trudeau tritt für eine Impf-Pflicht für bestimmte Personengruppen und Reisende ein. Das stösst in Teilen der Bevölkerung auf heftigen Widerstand. O'Toole setzt stattdessen auf häufiges Testen. Trudeau hat versprochen, ein von den Liberalen seit Jahren in Aussicht gestelltes umfassendes Kinderbetreuungsprogramm endlich umzusetzen. Die Konservativen bevorzugen Steuererleichterungen, um die Kosten für die Tagesbetreuung zu stemmen. Die Preise für Wohnungsimmobilien sind seit Trudeaus Amtsantritt um etwa 70 Prozent in die Höhe geschossen. Beide Parteien wollen unter anderem mit Neubau-Programmen gegensteuern. Den Klimawandel wollen die Liberalen unter anderem mit strengeren Emissionszielen bekämpfen als die Konservativen, die für die Öl- und Gasindustrie eintreten. 

(Reuters)