Deutsche Politiker von Union, Grünen und FDP plädierten am Donnerstag dafür, das milliardenschwere Projekt auf den Prüfstand zu stellen, das mehr russisches Gas nach Westeuropa bringen soll. Dagegen bremsten vor allem Wirtschaftsvertreter und auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Der Kreml wies eine Verantwortung an dem Anschlag auf Nawalny zurück. Der Auslandsgeheimdienst brachte zudem den Verdacht auf, der 44-jährige Kreml-Kritiker sei von Spezialkräften des Westens vergiftet worden.

Kanzlerin Angela Merkel hatte am Mittwoch von einem Mordversuch auf Nawalny gesprochen und die russische Regierung aufgefordert, die Hintergründe aufzuklären. Danach würden EU- und Nato-Staaten über gemeinsame Antworten beraten. Die EU-Kommission in Brüssel erklärte am Donnerstag, neue Sanktionen gegen Russland könnten erst verhängt werden, wenn bewiesen sei, wer für den Anschlag verantwortlich sei. Derzeit werde der Fall Nawalny noch nicht untersucht, sagte Kommissionssprecher Peter Stano. Er forderte Russland auf, eine unabhängige Ermittlung einzuleiten und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die EU werde basierend auf Moskaus nächsten Schritten reagieren.

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In Moskau wies Kreml-Sprecher Dmitry Peskow eine Verantwortung der Regierung an dem Anschlag zurück. Daher gebe es auch keine Grundlage für Sanktionen gegen Russland, erklärte er und warnte Deutschland und Europa vor voreiligen Schlüssen. Die russische Nachrichtenagentur RIA zitierte den Chef des Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin mit den Worten, die Regierung in Moskau könne nicht ausschließen, dass Spezialkräfte des Westens hinter der Vergiftung Nawalnys steckten. Russische Ärzte hätten keine Spuren des Gifts gefunden, nachdem Nawalny in ein russisches Krankenhaus eingeliefert worden sei.

Nawalny war am 20. August auf einem Inlandsflug in Russland zusammengebrochen und in ein Krankenhaus im sibirischen Omsk gebracht worden. Zwei Tage später wurde er nach Deutschland ausgeflogen, wo er seitdem in der Berliner Charité behandelt wird. Am Mittwoch teilte die Bundesregierung mit, dass Nawalny mit einem chemischen Kampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden sei. Mit dem Stoff war 2018 bereits ein Anschlag auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal in Großbritannien verübt worden, für das die russische Regierung verantwortlich gemacht wurde.

"Die einzige Sprache, die Putin versteht, ist eine der Härte"

Im Bundestag mehren sich nun Forderungen nach Sanktionen, die über Reiseeinschränkungen für russische Offizielle hinausgehen sollen. "Die einzige Sprache, die Putin versteht, ist eine der Härte", sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), im Deutschlandfunk. Deshalb müsse die Frage der Erdgaslieferungen auf den Tisch. Er sei zwar nicht dafür, diese Lieferungen komplett abzuschneiden. Aber nun müsse alles auf den Prüfstand. FDP-Chef Christian Lindner sagte im ARD-Morgenmagazin: "Ein Regime, das Giftmorde organisiert, ist kein Partner für große Kooperationsprojekte – auch nicht für Pipeline-Projekte." Auch Omid Nouripour von den Grünen forderte: "Die Bundesregierung muss von diesem Gasprojekt endlich zurücktreten."

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte allerdings erst vergangene Woche gesagt, sie lehne eine Verbindung des Nawalny-Falls mit Nord Stream 2 ab. "Ich denke, dass wir das davon entkoppelt sehen sollten. Unsere Meinung ist, dass Nord Stream 2 fertiggestellt werden sollte." Bundeswirtschaftsminister Altmaier sagte am Donnerstag im Handelsausschuss des Europa-Parlaments, Nord Stream habe nicht zwingend etwas mit der Menge russischem Gases zu tun, die dann durch die neue Pipeline gelenkt werde. Weil Deutschland parallel aus der Atomkraft und der Kohleverstromung aussteige, sei es aber mindestens zum Übergang auf Gas angewiesen.

Der außenpolitische Sprecher der Union, Jürgen Hardt, sagte der Nachrichtenagentur Reuters, man dürfe zwar bei möglichen Sanktionen gegen Russland die Energiewirtschaft nicht außen vor lassen. "Aber Nord Stream 2 ist dabei nicht die zentrale Frage." CSU-Chef Markus Söder forderte eine Balance zwischen politischen und wirtschaftlichen Überlegungen. "Nord Stream 2 ist ja keine staatliche Entscheidung, sondern eine privatwirtschaftliche", sagte er in Berlin. Dennoch erscheine das Projekt jetzt nicht in einem "positiven Licht".

Der Vorsitzende des Ostausschusses der Wirtschaft, Oliver Hermes, warnte vor einer dauerhaften Belastung der deutsch-russischen Beziehungen und Wirtschaftskontakte. "Auf die Vergiftung Nawalnys mit weiteren Wirtschaftssanktionen zu reagieren, die dann wieder an der Sache völlig unbeteiligte Unternehmen und die russische Bevölkerung treffen würden, halten wir für falsch." Der Leiter der deutsch-russischen Außenhandelskammer, Matthias Schepp, äußerte sich im Reuters-Gespräch besorgt, dass der deutsche Rekordabfluss von Kapital aus Russland von mehr als einer Milliarde Euro in der Corona-Krise sich nun fortsetze.

(Reuters)