Alles deute darauf hin, dass Russland bereit dazu sei, die Ukraine anzugreifen, sagte Biden. Es gebe auch Grund zur Annahme, dass Moskau in eine Operation unter falscher Flagge verwickelt sei - so werden Machenschaften bezeichnet, um einen Vorwand für einen Angriff künstlich zu inszenieren. Ähnliche Sorgen äusserten Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell.

Bundeskanzler Olaf Scholz betonte nach dem EU-Sondertreffen, Russland habe an der Grenze zur Ukraine genug militärisches Potenzial für eine Invasion. "Das ist bedrohlich, und das bleibt auch eine bedrohliche Situation, und da darf man nicht naiv sein."

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin warf Moskau eine weitere Aufstockung von Truppen und Ausrüstung vor. Er sagte nach Beratungen der Verteidigungsminister der Nato-Staaten: Die Russen beteuerten zwar, dass sie einige ihrer Kräfte abzögen, nachdem Übungen abgeschlossen seien, "aber wir sehen das nicht - ganz im Gegenteil". Der Pentagon-Chef erklärte: "Wir sehen, dass sie die mehr als 150 000 Soldaten, die sie bereits entlang der Grenze stationiert haben, aufstocken. Sogar in den vergangenen paar Tagen." Die Truppen rückten näher an die Grenze heran.

Scholz und die anderen EU-Spitzenpolitiker betonten am Donnerstag die Doppelstrategie gegenüber Russland: Einerseits Androhung harter Sanktionen, andererseits Gesprächsbereitschaft. "Wenn es zu einer militärischen Aggression gegen die Ukraine kommt, dann wird das Konsequenzen haben, und wir sind vorbereitet, auch dann mit Sanktionen zu reagieren", sagte Scholz. Der Kanzler berichtete seinen Kollegen vom Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Dienstag in Moskau.

Auch Biden sieht nach wie vor die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung. Darum habe er US-Aussenminister Antony Blinken zu einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates nach New York geschickt. Er selbst habe zurzeit keine Pläne, erneut mit Putin zu telefonieren, sagte der US-Präsident. EU-Ratschef Charles Michel rief Russland zur Deeskalation auf: "Wir brauchen konkrete, sichtbare Auswirkungen vor Ort."

Die Nato äusserte Sorge über Berichte über angebliche Angriffe gegen prorussische Separatisten in der Ostukraine. "Wir sind besorgt darüber, dass Russland versucht, einen Vorwand für einen bewaffneten Angriff auf die Ukraine zu inszenieren", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg. Man wisse nicht, was passiere, aber der russische Truppenaufmarsch im Grenzgebiet zur Ukraine sei der grösste in Europa seit Jahrzehnten. Zugleich wisse man auch, dass es in der Ukraine viele russische Geheimdienstler gebe, die auch im Donbass aktiv seien. Und man habe Versuche gesehen, mit "Operationen unter falscher Flagge" einen Vorwand für eine Invasion der Ukraine zu schaffen. Ostukrainischen Separatisten hatten ukrainische Regierungstruppen zuvor Verstösse gegen den geltenden Waffenstillstand vorgeworfen.

Russland bekräftigte am Donnerstag hingegen erneut den Teilabzug seiner Truppen von der ukrainischen Grenze. Nach dem Abschluss von Manövern seien Panzer des Wehrbezirks West zum Abtransport bereit gemacht worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Dazu veröffentlichte es ein Foto, dass die Kampffahrzeuge zeigen soll. Zudem betonte Russland, seine Truppen nach Ende eines Militärmanövers aus dem Nachbarland Belarus abzuziehen. Die Übungen im Süden von Belarus an der Grenze zur Ukraine sollen planmässig an diesem Sonntag zu Ende gehen.

Russland hat die USA zum Abzug ihrer Streitkräfte aus Zentral-, Ost- und Südosteuropa und aus dem Baltikum aufgefordert. "Wir sind überzeugt, dass das nationale Potenzial in diesen Zonen völlig ausreichend ist", hiess es in einem vom russischen Aussenministerium am Donnerstag veröffentlichten Schreiben. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die schriftliche Reaktion der USA auf die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien für Europa.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte zuletzt wiederholt ein Ende der Nato-Osterweiterung gefordert sowie vor einer Aufnahme der Ukraine in das Bündnis gewarnt, weil für diesen Fall ein Krieg drohe. In dem Schreiben betonte Russland, keinen Überfall auf die Ukraine zu planen. Der Brief an die US-Seite beinhaltet auch das Angebot neuer Gespräche über Sicherheitsfragen in Europa. Erneut drohte Russland mit militärischen Gegenmassnahmen, sollte eine Einigung über die Sicherheitsfragen in Europa nicht möglich sein./wim/DP/nas

(AWP)