cash: Die Schweizer Privathaushalte haben wegen Hypothekarkrediten die höchste Schuldenrate weltweit. Da müssen sich bei Ihnen als Verschuldungskritiker die Nackenhaare sträuben.

Tomas Sedlacek: Das ist ja nichts Aussergewöhnliches. In den reichsten Länder der Welt, das heisst USA, Japan oder der Schweiz, sieht man in der Regel auch einen hohen Verschuldungsgrad. Kürzlich beklagte sich ein Grieche bei mir, dass viele seiner Landsleute wegen der Krise ihre Häuser verloren hätten. Da musste ich intervenieren und sagen: Sorry, das waren nicht ihre Häuser. Früher brauchte man ein bis zwei Jahre, um ein Haus zu besitzen. Heute dauert das bis 40 Jahre. Die Gesellschaft lebt grösstenteils in Häusern, die den Leuten nicht gehören. Wir fahren Autos, die uns nicht gehören. Und oft brauchen wir Technologie, die uns ebenfalls nicht gehört.

Na und? Wir können ja nicht immer alles bar bezahlen.

Es ist okay, wenn sich die Leute bis zu einem gewissen Grad verschulden. Das Schuldenmachen wird zum Problem, wenn es automatisiert erfolgt beim Erwerb von Dingen. Wird diese Freiheit übertrieben, können ganze Volkswirtschaften kollabieren. Keine Volkswirtschaft ist je zusammengebrochen wegen fehlenden Wachstums. Kein Unternehmen ging bankrott wegen rückläufiger Renditen. Kein Arbeitnehmer ging zugrunde wegen rückläufiger Löhne. Nein, man muss verschuldet sein, um bankrott zu gehen. Es ist eine perverse Logik: Je mehr ich habe, desto höhere Schulden habe ich. Das genau macht es schwer, die Schulden zurückzuzahlen, wenn es einem besser geht.

Glauben Sie , dass die Krise in den letzten Jahren die Staaten und die Individuen lehrt, sich weniger zu verschulden?

Die Diskussionen gerade um die Schuldenobergrenze in den USA zeigt, dass das Land, zumindest mental, nicht bereit ist zur Schuldenlimitierung. Die Europäer haben zumindest eine Art Standard bei der Staatsverschuldung. Für meinen Geschmack sind die Änderungen, seit die Krise ausbrach, aber zu wenig einschneidend.

Weshalb?

Nun, das Schuldenfass ist einfach nach wie zu voll. In der nächsten Krise, die zweifellos irgendwann kommen wird, wird ein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringen. Das kann ein kleiner Anlass sein, etwa der Bankrott einer Airline. Der entscheidende Punkt heute ist nicht, das Wirtschaftswachstum zu forcieren, sondern die Schulden zu reduzieren. Indem wir die Schulden auf ein kontrollierbares Niveau bringen, können wir uns einen Puffer für neue Krisen bilden.

Das ist Ihr Hauptanliegen, auch in Ihrem Buch 'Die Ökonomie von Gut und Böse'. Sparen in guten Zeiten, um für schlechte Zeiten gerüstet zu sein. Aber das wird uns ja schon als Kind eingetrichtert. Offenbar funktioniert das beim Menschen nicht richtig.

Ja, weil Wohlstand und Reichtum abhängig machen. Der älteste Konjunkturzyklus ist in der Bibel bei der Geschichte von Joseph und dem Pharao dokumentiert. Die ägyptische Gesellschaft ging sieben Jahre durch eine Hungerkrise ohne einen Penny Schulden. Warum? Weil sie zuvor, in den sieben fetten Jahren, gespart hatte. Wenn wir bloss, wie Sie erwähnt haben, ein wenig von den Ratschlägen an die siebenjährigen Kinder befolgen würden, dann müssten wir uns jetzt nicht super-intelligente Analysen anhören oder in Erinnerung rufen, welche die Gefahren einer Krise ständig herunterspielen.

Ihr Buch, das erstmals 2009 erschien, war ein Erfolg. Trafen Sie mit Ihrer Wachstumskritik den Zeitgeist?

Ich habe zwölf Jahre am Buch gearbeitet. Die meisten Gedanken, die ins Buch hineinflossen, sind also vor der Krise entstanden. Aber bei Erscheinen des Buches befanden wir uns in der Krise, und wenn etwas zusammenbricht, woran die Leute geglaubt hatten, schauen Sie sich oft nach neuen Werten um. Und um ehrlich zu sein: Ich selber war am meisten überrascht vom Erfolg des Buches. Ich dachte, es würde vielleicht von etwa 500 intellektuellen ‘Weirdos' gelesen.

Es ja auch kein Zufall, dass Ihr 'Anti-Verschuldung-Buch' in Deutschland erfolgreich war. Ein Land, das wie kein anderes in Europa für Austeritätspolitik einsteht.

Das ist wohl in der Tat kein Zufall. In Deutschland und in Österreich sind die Lehren von Ludwig von Mises und Friedrich Hayek sehr populär. Ich habe einfach ein Problem damit, dass wir dazu tendieren, die Ökonomie auf die mathematische Ökonomie zu beschränken. Da versuchte ich in meinem Buch ein wenig Gegensteuer zu geben und brachte die Wirtschaftswissenschaften in Zusammenhang mit Theologie oder mit populären Filmen. Vielleicht habe ich es auch ein wenig übertrieben.

Mit der Wachstumskritik in den westlichen Ländern setzt man sich aber noch mehr der Gefahr aus, dass staatskapitalistisch orientierte Länder aus Schwellenmärkten, etwa China, den industrialisierten Ländern den Rang ablaufen.

Das höre ich oft, auch von Top-Managern. Aber die Welt wird besser sein mit einem reichen China als mit einem armen China. Die Amerikaner kamen nach dem Krieg mit einem reichen Europa besser aus als mit einem armen Europa. Die Welt fährt besser mit einem reichen Japan als mit einem armen Japan. Ich drehe die Gedanken noch weiter: Was nun in China passiert, könnte doch einen ähnlichen Ausgang nehmen wie die Entwicklung in Europa in den letzten sechs Jahren. China wird Europa nicht zerstören. Europa wird China nicht zerstören. Europa wird Europa und China wird China zerstören, falls überhaupt. Die Barbaren stehen nicht vor der Tür. Die Barbaren sind bereits drinnen. Und die sind wir.

Im cash-Video-Interview äussert sich Tomas Sedlacek zum Vorgehen von Russland auf der Krim.

Der Tscheche Tomas Sedlacek (geboren 1977) ist Chefökonom bei der grössten tschechischen Bank CSOB, Mitglied im Nationalen Wirtschaftsrat seines Landes und Hochschullehrer an der Prager Karls-Universität. Er war Berater von Vaclav Havel. Er plädiert in seinem Buch "Die Ökonomie von Gut und Böse" (zuerst erschienen 2009) für ein neues Verständnis von Wirtschaft.

Das Gespräch mit Tomas Sedlacek wurde Ende letzter Woche in Amsterdam am Rande der Morningstar European Investment Conference geführt.