cash.ch: Kapitalgewinne sind in der Schweiz zunächst einmal steuerfrei. In einer cash-Online-Umfrage geben 6 Prozent der Teilnehmenden an, dass sie vom Steueramt schon einmal als gewerbsmässige Wertschriften-Händlerin oder Händler eingestuft worden sind (siehe Umfrageergebnisse). Dann müssen Kapitalgewinne als Einkommen versteuert werden. Was ist Ihre Erfahrung mit dem Thema?

Andreas Wüthrich: Gemäss Artikel 16 im Bundesgesetz für die direkte Bundessteuer (DBG) ist der private Kapitalgewinn steuerfrei. Demgegenüber steht die Qualifizierung als gewerbsmässiger Wertschriftenhändler. In der Verlangungspraxis wird die Auslegung und Anwendung  teilweise sehr unterschiedlich vorgenommen. 

Wenn die Handhabung von steuerfreien Kapitalgewinnen von Steueramt zu Steueramt so unterschiedlich ist – herrscht dann nicht zu viel Unsicherheit?

Ja, man kann definitiv feststellen, dass die Steuerämter diesen Punkt unterschiedlich anwenden.

Andreas Wüthrich ist Inhaber und Geschäftsführer der Dynamis Treuhand in Lenzburg AG (Bild: zVg). 

Die fünf Kriterien zur Einstufung als gewerbsmässige Händler, wie sie die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) in einem Kreisschreiben festhält, sind für viele Anleger unklar zu interpretieren, wie cash.ch festgestellt hat.

Dem ist so. Oft wird die Situation nach dem Gesamtvermögen des Steuerpflichtigen beurteilt. Betrachtet wird die gesamte Einkommens- und Vermögenssituation.

Auf was kommt es dort vor allem an?

Ein Indiz zeigt sich auch in der Frage, ob der Steuerpflichtige effektiv auf die Gewinne aus Kapitalanlagen angewiesen ist, um seine Lebenshaltungskosten zu tragen. Das kann auch heissen, ob jemand Gewinne bereits realisiert und dafür eingesetzt hat, den Lebensunterhalt zu finanzieren.

Wie stellt man dies fest?

Verdient jemand 200'000 Franken im Jahr, ist alleinstehend und erzielt in der Steuerperiode noch 100'000 Franken Kapitalgewinn, kann man sagen, dass der Betreffende auf die Einnahmen aus dem Börsenhandel nicht angewiesen gewesen ist. Genauso dürfte es sein, wenn jemand von einem hohen Vermögen lebt und nicht von weiteren Einkünften abhängig ist. Auf eine Faustregel, dass man höchstens 50 Prozent des Reineinkommens mit Kapitalgewinnen erzielen darf, würde ich mich hingegen eher nicht verlassen.

Wer muss denn typischerweise mit einer Einstufung als gewerbsmässiger Händler rechnen?

Viele angewendete Kriterien sind: Häufige Wertschriftentransaktionen und eine kurze Haltedauer. Der Einsatz von erheblichen Fremdkapitalien, die Deckung der Schuldzinsen durch realisierte Wertschriftengewinne und wenn Derivate als spekulative Instrumente eingesetzt werden, zählen diese auch als Indizien für eine gewerbsmässige Tätigkeit.

Ein Diskussionsthema ist, warum nur Gewinne besteuert, aber Verluste nicht angerechnet werden.

Konsequent wäre ja, dass die Steuerämter die Anleger nicht nur wegen Kapitalgewinnen, sondern auch bei Verlusten als gewerbsmässige Händler qualifizieren. Aber da besteht ein Spannungsfeld: Oft ist es so, dass Steuerämter bei Gewinnen diese Einstufung einmalig vornehmen und die Verluste in einem Folgejahr dann nicht gewähren. Dies oft auch im Zusammenhang mit einer bisher fehlenden Buchhaltung.

Können sich die Steuerpflichtigen denn bei Verlusten beim Steueramt melden und eine Abzugsfähigkeit verlangen?

Privatpersonen, die schon als gewerbsmässige Händler eingestuft worden sind, sollten Verluste  aus Kapitalanlagen mit ihrem Einkommen verrechnen können. Das Problem ist aber, dass die Steuerämter dies wie gesagt unterschiedlich handhaben. Definitiv als gewerbsmässiger Händler – bei Gewinnen und Verlusten – eingestuft ist nur, wer eine Firma gründet, sich also als "professioneller Vermögensverwalter" selbständig macht.

Gibt es solche Fälle?

Ja. Es gibt Leute, die eine Kapitalgesellschaft (GmbH) gründen und ihre Vermögenswerte dorthin verlegen, um sich dem Risiko nicht auszusetzen. Dazu empfiehlt sich vorgängig die weiteren Folgen einer Firmengründung abzuklären. In der Regel sind das sehr wenige Personen, die wirklich sehr viel an der Börse handeln. Die meisten Privatanleger sind ja Angestellte mit Lohnausweis, oder Rentner, die nebenher "börselen". Diese planen im Normalfall ja nicht, ein Unternehmen zu gründen. 

Können am Finanzmarkt handelnde Steuerpflichtige vorgängig herausfinden, ob ihnen eine Besteuerung droht?

Bei Anfragen äussern sich die meisten Steuerämter meiner Erfahrung nach vorgängig nicht konkret. Eine Beurteilung wird erst aufgrund der Steuererklärung gemacht. Dies ist rechtlich auch zulässig, aber natürlich genau das, was Unsicherheit auslöst. Bei anderen Sachverhalten, beispielsweise einem Unternehmensverkauf, kann man vorgängig ein so genanntes "Ruling" eingeben und dann auch erfahren, ob die Transaktion ohne Steuerfolgen durchgeführt werden kann. Bei privaten Kapitalanlagen sind die Steuerbehörden oft nicht bereit, eine verbindliche Stellungnahme abzugeben.

Wie können sich Steuerpflichtige wehren? Und ist es möglich, dass ein Steueramt eine Einstufung als Händler wieder aufhebt?

Nachdem man die Steuerveranlagung und die definitive Steuerrechnung erhält, kann man eine Einsprache machen. Dann geht es darum, Argumente vorzubringen, dass ein Kriterium für eine Gewerbsmässigkeit nicht vorliegt.

Wer mit komplexen Anlageprodukten hantieren kann, könnte ja ebenfalls als gewerbsmässiger Händler gesehen werden. Spielt es eine Rolle, ob Privatanleger wie Profis wirken?

Das Thema der beruflichen Qualifikation und des Fachwissens spielt heute eher eine untergeordnete Rolle.

In den vergangenen Monaten konnten grosse Renditen mit Aktien und Derivaten erzielt werden. Viele Anleger erzielen im Moment aber auch teils beträchtliche Kapitalgewinne mit Kryptowährungen wie Bitcoin. Müssen sich auch diese Gedanken machen?

Ja, es geht um Kurs- respektive Kapitalgewinne, und diese kommen ja nicht nur von Aktien. Zudem muss man beachten, dass auf diese Gewinne neben einer Kapitalsteuer auch noch Sozialversicherungsbeiträge bei der AHV entfallen, wenn jemand mit gewerbsmässigem Handel eingestuft worden ist.

Wie man hört und wie auch die cash-Umfrage zeigt, muss nur ein kleiner Teil der Privatanleger Steuern bezahlen. Aber könnten die Steuerämter strenger werden?

Die Veranlagungspraxis hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Sie ist definitiv strenger geworden. In der Schweiz werden die Steuern nicht erhöht, aber die Veranlagungspraxis wird verschärft. Und innerhalb dieser  Veranlagungspraxis liegt ja der Spielraum von Steuerämtern, Anleger als gewerbsmässige Händler einzustufen.