Russland erklärte sich am Freitag dazu bereit, eine Delegation zu möglichen Friedensverhandlungen mit der Ukraine in die belarussische Hauptstadt Minsk zu schicken, wie Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte dem russischen Staatschef Wladimir Putin zuvor zwei Mal ein Treffen angeboten.
Russland hatte nach monatelangem Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine am Donnerstag eine Offensive gestartet. Während Panzer in die ehemalige Sowjetrepublik vorstiessen, gab es Luftangriffe im ganzen Land. In Kiew flüchteten die Menschen zum Schutz auch in U-Bahnhöfe.
100'000 auf der Flucht
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind in der Ukraine schon 100'000 Menschen auf der Flucht. Die UN rechnen mit bis zu vier Millionen Flüchtlingen, sollte sich die Situation weiter verschlechtern. Schon jetzt seien Tausende in Nachbarländer wie Polen, Moldau, die Slowakei und auch Russland geströmt, hiess es vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Die Ukraine hat etwa 42 Millionen Einwohner.
Rund um den Globus gingen Demonstranten aus Solidarität auf die Strasse. Gebäude und Monumente wurden in den blau-gelben Farben der ukrainischen Flagge beleuchtet. In Deutschland sind für das Wochenende Kundgebungen in mehreren Städten angekündigt, unter anderem in Berlin. Auch in Russland gab es zahlreiche Proteste. Dabei wurden Bürgerrechtlern zufolge mehr als 1700 Menschen festgenommen.
EU verhängt Sanktionen gegen Putin
Die EU und die USA belegten Russland mit verschärften Sanktionen, verzichteten aber noch auf härteste Strafmassnahmen. Die EU setzt nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur auch Putin persönlich und Aussenminister Sergej Lawrow auf ihre Sanktionsliste. Dies bedeutet, dass möglicherweise in der EU vorhandene Vermögenswerte der beiden eingefroren werden. Zudem dürfen sie nicht mehr in die EU einreisen. Strafmassnahmen der EU gibt es auch mit Blick auf Energie, Finanzen und Transport. Zudem soll es Exportkontrollen für bestimmte Produkte sowie Einschränkungen bei der Visavergabe geben.
Der Kreml verteidigte seinen Militäreinsatz gegen weltweite Kritik und begrüsste zugleich einen Vorschlag Selenskyjs, über einen neutralen Status der Ukraine zu verhandeln. Aussenminister Lawrow sagte der Agentur Interfax zufolge, der Zweck des Einsatzes sei eine "Entmilitarisierung und Entnazifizierung" und fügte an: "Niemand wird die Ukraine besetzen." Der Kreml behauptet seit Jahren, 2014 hätten aus dem Ausland gesteuerte "Faschisten" in Kiew einen Staatsstreich herbeigeführt.
Merkel äussert sich
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) prangerte den Angriff als eklatanten Bruch des Völkerrechts an. Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einer "tiefgreifenden Zäsur in der Geschichte Europas nach dem Ende des Kalten Krieges". Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appellierte an Putin: "Stoppen Sie den Wahnsinn dieses Krieges. Jetzt!" Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda rief dazu auf, Russland politisch zu isolieren. "Der Aggressor hat keinen Platz in der G20 und im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen", erklärte er.
Die genaue militärische Lage blieb undurchsichtig. Russland setzte eigenen Angaben zufolge 118 ukrainische Militärobjekte "ausser Gefecht", darunter elf Militärflughäfen, und schoss fünf ukrainische Kampfflugzeuge und einem Hubschrauber ab. Die Angaben liessen sich nicht unabhängig überprüfen.
Tschernobyl erobert
Einem russischen Militärsprecher zufolge eroberten die Russen das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl, knapp 70 Kilometer von Kiew entfernt. Spezialisten eines ukrainischen Wachbataillons seien aber nach Absprache weiter im Einsatz. Es gebe keine Auffälligkeiten, die radioaktiven Werte seien normal. Hingegen teilte die zuständige ukrainische Behörde mit, sie messe deutlich erhöhte Strahlenwerte.
Nach ukrainischen Angaben erlitten die russischen Truppen ihrerseits schwere Verluste. Präsident Selenskyj sagte, in der ukrainischen Armee seien am ersten Tag der Invasion 137 Soldaten getötet und 316 Soldaten verletzt worden. Das Verteidigungsministerium sprach von 30 zerstörten russischen Panzern, 130 Panzerfahrzeugen, 7 Flugzeugen und 6 Hubschraubern. Etwa 1000 russische Soldaten seien getötet worden. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace sagte, die russischen Truppen hätten 450 Tote zu verzeichnen.
Selenskyj sagte in einer Videobotschaft, die Russen machten entgegen ihrer Zusicherung keinen Unterschied zwischen militärischen Zielen und Wohnhäusern. Zugleich hielt er dem Westen mangelnde Unterstützung vor: "Wir verteidigen unseren Staat allein. Die mächtigsten Kräfte der Welt schauen aus der Ferne zu." Am späten Donnerstagabend hatte er eine allgemeine Mobilmachung angeordnet, die die Einberufung von Wehrpflichtigen und Reservisten vorsieht.
Selenskyj mutmasste, dass der Angriff dazu dienen soll, ihn zu stürzen. "Nach unseren Informationen hat mich der Feind zum Ziel Nr. 1 erklärt, meine Familie zum Ziel Nr. 2", sagte er.
«Die Stadt ist im Verteidigungsmodus»
Ukrainische Truppen rückten mit schwerer Militärtechnik unterdessen in Kiew ein, um die Hauptstadt zu verteidigen. "Die Stadt ist im Verteidigungsmodus", sagte Bürgermeister Vitali Klitschko der Agentur Unian zufolge. Schüsse und Explosionen in einigen Gegenden bedeuteten, dass russische "Saboteure" ausgeschaltet würden. In der Metropole heulten mehrfach die Sirenen, wie ein Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur berichtete. Die U-Bahn-Stationen der Hauptstadt mit etwa 2,8 Millionen Einwohnern dienten als Schutzräume.
Die entsandten Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kiew reisten nach dem Angriff nach Polen aus. Lokale Beschäftigte seien aber weiter vor Ort, teilte das Auswärtige Amt mit.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte nach einem Krisengipfel in Brüssel: "Unsere Einigkeit ist unsere Stärke." Ganz einig waren sich die Staats- und Regierungschefs aber nicht: Mehrere forderten härtere Strafen, auch mit Blick auf das Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift. Ein Swift-Ausschluss hätte zur Folge, dass russische Institute quasi vom globalen Finanzsystem ausgeschlossen würden. Scholz wandte sich jedoch dagegen, dieses Sanktionsinstrument jetzt schon einzusetzen.
(AWP)