Im Jahr 2016 sind über 5000 Flüchtlinge bei der Überfahrt nach Europa im Mittelmeer umgekommen, schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM). Das ist ein neuer Höchststand und ein Indiz dafür, dass die Flüchtlingssbewegungen vor allem aus Afrika eher zu- als abnehmen. Seit der Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei über die Rücknahme von Flüchtlingen im März letzten Jahres ist der Seeweg von Nordafrika die Hauptroute für Migranten nach Europa. 

Auf mittel- und langfristige Sicht wird der Flüchtlingsstrom aus Afrika nicht abebben, im Gegenteil. "Die Flüchltingsströme werden zunehmen, weil die Zahl der Flüchtlinge ständig steigt," sagt der bekannte Nahost-Experte und ehemalige Kriegsreporter Ulrich Tilgner im Video-Interview mit cash am Rande des Alpensymposiums in Interlaken, wo Tilgner als Redner auftrat. Allein in der Südsahelzone gebe es derzeit neun Millionen Flüchtlinge. "Wenn nur ein Teil davon nach Europa geht, dann können Sie sich vorstellen, was an den Aussengrenzen Europas künftig los sein wird", sagt Tilgner.

Wegen des Bevölkerungswachstums in Afrika erwarten viele Fachleute einen zunehmenden Migrationsdruck in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Gallup ergaben, dass in den Ländern südlich der Sahara durchschnittlich ein Viertel der Befragten gerne auswandern würde. Das entspräche 300 bis 400 Millionen Menschen. Dieser Anteil werde auch nicht geringer, wenn die Einkommen in Afrika stiegen, sagt etwa der Entwicklungsökonom Paul Collier von der Universität Oxford. Denn es sind heute schon eher die Menschen mit mittlerem Einkommen, die sich die teure Auswanderung nach Europa inklusive der nötigen Schlepperdienste leisten können.

Es entstehe ein Bevölkerungsdruck, der langfristig zu einer Völkerwanderung führe, sagt Tilgner, "da muss man sich im Klaren sein. Europa wird in hundert Jahren anders aussehen als heute." Der Kontinent müsse sich darauf vorbereiten und dürfe sein Heil nicht in der Abschottung suchen. "Das wird nicht funktionieren", prophezeit Tilgner.

"Die junge Generation muss zum Zug kommen"

Stattdessen müsse Europa die Flüchtlingspolitik ändern und vor allem auch darauf achten, dass die verkrusteten Machtstrukturen in arabischen Ländern, auch in den wohlhabenden, aufgebrochen werden. "Die Europäaer müssen darauf achten, dass die Despoten im Orient beseitigt werden und dass die junge Generation dort endlich mal zum Zug kommt." Damit würde auch ein anderes Problem angegangen: Bereits 2010 war offenbar für die damalige US-Aussenministerin Hillary Clinton klar, dass "Geldgeber in Saudiarabien die grössten Finanzierer von terroristischen Sunniten-Gruppen weltweit sind", wenn man geheimen Memos von Clinton Glauben Schenken darf, welche Wikileaks veröffentlicht hatte.

Dass die Welle von Terroranschlägen auch in Europa weitergeht, steht für Tilgner ausser Frage. Auf Basis der Anzahl Schweizer, die sich als Kämpfer den Truppen des Islamischen Staates angeschlossen haben, müsse die Schweiz mittel- und langfristig mit einem bis drei Terroranschlägen rechnen. In derselben Zeit müsse man aber vielleicht mit zehn Terrorakten in Deutschland oder 30 in Frankreich rechnen.  

Durch Integration könne man dem Terror entgegenwirken, ist Tilgner überzeugt. "Wenn man Lager schafft, erzeugt man Nachwuchs für den Terror." Die Schweiz sei, was die Bereitschaft für Integration angehe,  in Europa relativ weit vorne. 

 

Im cash-Video-Interview äussert sich Ulrich Tilgner auch zur Rolle des Westens im Syrienkrieg, zur Rolle der USA im Mittleren Osten und zu Investitionsmöglichkeiten im Iran.