Nach Hochrechnungen von ARD und ZDF (20.00 und 19.30 Uhr) verbessert sich die SPD auf 25,5 bis 25,7 Prozent (2017: 20,5 Prozent). Die CDU/CSU fällt auf 24,6 bis 24,6 (32,9). Die Grünen fahren mit Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin 13,8 bis 14,4 Prozent ein (8,9). Die FDP verbessert sich auf 11,7 Prozent (10,7). Die AfD, bisher drittstärkste Kraft, kommt auf 10,7 bis 10,9 Prozent (12,6). Die Linke rutscht auf 5,0 Prozent ab (9,2). Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), als Partei nationaler Minderheiten von der Fünf-Prozent-Hürde befreit, kann laut ARD-Prognose einen Abgeordneten in den Bundestag schicken.

Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ändern sich damit deutlich, die konkrete Sitzverteilung hängt unter anderem davon ab, ob es die Linke ins Parlament schafft. Nach Hochrechnungen beider Sender ergibt sich folgende Sitzverteilung: Die SPD holt 202 bis 206 Mandate, die Union 197 bis 198. Die Grünen kommen auf 110 bis 116 Sitze. Die FDP zieht mit 93 bis 94 Abgeordneten in den Bundestag ein, die AfD mit 86 bis 87 und die Linke mit 40 Abgeordneten.

Damit zeichnet sich eine komplizierte Regierungsbildung ab. Einzig denkbares Zweierbündnis wäre eine neue grosse Koalition, die aber weder SPD noch Union wollen. Deshalb dürfte es voraussichtlich zum ersten Mal ein Dreierbündnis im Bund geben. Rechnerisch sind mehrere Konstellationen möglich.

Scholz sieht dabei einen klaren Wählerauftrag für die SPD. "Die Bürgerinnen und Bürger wollten einen Wechsel. Viele Wählerinnen und Wähler hätten deutlich gemacht, dass sie einen "Wechsel in der Regierung" wollten und dass der nächste Kanzler Olaf Scholz heissen solle, sagte er. Es gilt als wahrscheinlich, dass Scholz ein Ampel-Bündnis mit Grünen und FDP anstrebt, wie es in Rheinland-Pfalz seit 2016 regiert.

Auch Laschet will trotz der massiven Verluste versuchen, eine Regierung mit FDP und Grünen zu schmieden. "Eine Stimme für die Union ist eine Stimme gegen eine linksgeführte Bundesregierung. Und deshalb werden wir alles daran setzen, eine Bundesregierung unter Führung der Union zu bilden", sagte er. "Deutschland braucht jetzt eine Zukunftskoalition, die unser Land modernisiert." CSU-Chef Markus Söder sprach sich für ein "Bündnis der Vernunft" unter Führung Laschets aus: "Wir glauben fest an die Idee eines Jamaika-Bündnisses."

Auch FDP-Chef Christian Lindner bekräftigte am Wahlabend, dass er die Union als Partner vorzieht. "Die inhaltliche Nähe zwischen Union und FDP ist die grösste", sagte er. "Die grössten inhaltlichen Übereinstimmungen sehe ich in einer Jamaika-Koalition. Und das ist jetzt ein Gespräch, das geführt werden muss, ob sich alle Beteiligten darin fair wiederfinden können." Er betonte aber zugleich, demokratische Parteien sollten Gespräche nie ausschliessen.

Ein solches Jamaika-Bündnis, wie es in Schleswig-Holstein regiert, war 2017 im Bund an der FDP gescheitert. Diesmal dürften eher die Grünen bremsen. Vor allem in der Finanz- und der Klimapolitik sind die Differenzen zwischen Grünen und FDP gross.

Nicht ausgeschlossen ist, dass Laschet oder Scholz auch als Zweitplatzierte versuchen könnten, ein Bündnis mit Grünen und FDP zu schmieden. Das wäre kein Novum. Willy Brandt wurde 1969 Kanzler einer sozialliberalen Koalition, obwohl die SPD nur auf Platz zwei gelandet war. Genauso war es bei Helmut Schmidt 1976 und 1980.

Falls die Ergebnisse ausreichen, wäre auch eine rot-grüne-rote Koalition denkbar. Die sehen grosse Teile von SPD und Grünen aber skeptisch, auch wegen grosser Differenzen mit der Linken in der Aussen- und Sicherheitspolitik. Die Linke muss nach den Prognosen zwar fürchten, dass sie die Fünf-Prozent-Hürde verpasst, dürfte aber voraussichtlich trotzdem in den Bundestag zurückkehren. Sollte sie mindestens drei ihrer zuletzt fünf Direktmandate verteidigen, darf sie laut Grundmandatsklausel entsprechend ihres Zweitstimmenergebnisses wieder ins Parlament einziehen.

Für die Union ist das Ergebnis zum Ende der Ära Merkel in jedem Fall ein schwerer Schlag - nicht nur für die CDU, sondern auch für die CSU, deren Parteichef Markus Söder sich im Frühjahr in einem Machtkampf mit Laschet um die Kanzlerkandidatur geschlagen geben musste. Nach den ersten Zahlen von Infratest dimap stürzte die CSU in Bayern auf 32,5 Prozent ab (2017: 38,8).

Über weite Strecken hatte die Union in Umfragen klar geführt. Wegen des Höhenflugs der Grünen galt lange ein schwarz-grünes Bündnis als wahrscheinlich. Im Wahlkampf leistete sich Laschet aber Patzer, darunter sein Lachen im NRW-Katastrophengebiet, während Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über die Flutopfer sprach.

Ähnlich erging es Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock. Nachdem ihre Partei noch im Frühjahr in Umfragen zeitweise vorn gelegen hatte, verlor sie im Sommer deutlich, als Baerbock unter anderem Fehler im Lebenslauf und zu spät gemeldete Nebeneinkünfte einräumen musste. Auch Plagiatsvorwürfe im Zusammenhang mit ihrem Buch machten ihr zu schaffen.

Am Wahlabend zeigte sich Baerbock enttäuscht. "Wir wollten mehr", räumte sie ein. Das habe nicht geklappt, auch aufgrund eigener Fehler. "Dieses Land braucht eine Klimaregierung", betonte Baerbock. "Dafür kämpfen wir jetzt weiter mit euch allen." Ihr Co-Vorsitzender, Robert Habeck, hielt seiner Partei alle Optionen bei möglichen Koalitionsverhandlungen offen. Die Grünen hätten "gute Chancen, stark in die nächste Regierung zu gehen", sagte Habeck. "Wir wollen regieren."

Vorerst gestoppt scheint der Höhenflug der AfD, die 2017 erstmals in den Bundestag einzog und damals aus dem Stand drittstärkste Partei wurde. Die Co-Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, Alice Weidel, nannte das Abschneiden ihrer Partei "sehr solide".

Der neue Bundestag dürfte so gross werden wie nie zuvor. Schon in der abgelaufenen Wahlperiode war er auf die Rekordgrösse von 709 Abgeordneten angewachsen, das Soll liegt bei 598 Sitzen. Union und SPD hatten 2020 nur eine kleine Wahlrechtsreform beschlossen. Eine grössere Reform ist erst für die Wahl 2025 geplant. Dafür soll eine Kommission bis Mitte 2023 Vorschläge machen.

In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern wurden parallel zum Bundestag neue Landesparlamente gewählt. Bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin lieferten sich SPD und Grüne ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Regierende Bürgermeisterin könnten Bettina Jarasch von den Grünen oder Franziska Giffey von der SPD werden. Eine Fortsetzung der bisherigen Koalition aus SPD, Linken und Grünen wäre möglich, möglicherweise unter Führung der Grünen.

In Mecklenburg-Vorpommern holte Ministerpräsidentin Manuela Schwesig laut Prognosen mit ihrer SPD mit weitem Abstand die meisten Stimmen und dürfte Regierungschefin bleiben. Platz zwei belegte demnach die AfD, die bisherige Regierungspartei CDU dahinter. Rechnerisch würde es für eine Fortsetzung der seit 2006 regierenden rot-schwarzen Koalition reichen. Doch hätte auch ein Bündnis aus SPD und Linke im Parlament eine knappe Mehrheit. Sollten FDP und Grüne wie erwartet ins Parlament einziehen, wäre auch eine sogenannte Ampel-Koalition möglich. Schwesig hatte vor der Wahl offen gelassen, welchen Regierungspartner sie bevorzugen würde./shy/DP/he

(AWP)