Wenn am 9. Oktober im deutschen Bundesland Niedersachsen die letzte Landtagswahl in diesem Jahr stattfindet, wird es ein besonderer Stimmungstest werden. "Denn dann könnte die Stimmung im Land durch hohe Energiepreise und eine mögliche neue Corona-Welle eine viel schlechtere sein als jetzt", heisst es in Regierungskreisen in Berlin mit Sorge. Von "sozialem Sprengstoff" sprach Kanzler Olaf Scholz bereits am letzten Sonntag mit Blick darauf, dass Millionen Haushalte Heizkostenabrechnungen mit Aufschlägen von mehreren hundert Euro zu erwarten haben.

Deshalb ist derzeit die Nervosität bei den Akteuren angesichts möglicherweise grosser sozialer und politischer Verwerfungen durch die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine gross - auch weil niemand weiss, ob und wann Russlands Präsident Wladimir Putin den Gashahn ganz zudrehen wird. Jedenfalls sind derzeit die Stimmen verstummt, die noch vor wenigen Wochen vehement einen sofortigen westlichen Ausstieg aus russischen Gaslieferungen gefordert hatten.

Meinungsforscher bestätigen die labile Stimmung: "So schlechte Werte haben wir nicht einmal in der Finanzkrise gemessen", sagt Peter Matuschek, Geschäftsführer des Forsa-Instituts, zu Reuters. "Über 70 Prozent erwarten, dass die Lage noch schlechter wird und die Preise für Energie und Nahrungsmittel weiter steigen." Mittlerweile sei die Verunsicherung auch in der Mittelschicht angekommen. "40 Prozent der Befragten sagen, dass sie mit der Lage nicht mehr zurechtkommen", sekundiert Hermann Binkert, Chef des Insa-Meinungsforschungsinstituts.

Die Sorge vor einer kippenden Stimmung im Land erklärt nach Angaben aus Regierungskreisen den derzeitigen Kurs von Kanzler und Ampel-Koalition. So will Scholz Energieversorger wie Uniper mit Milliarden Euro retten - aber auf keinen Fall in absehbarer Zeit zulassen, dass die Firmen stark gestiegene Gaseinkaufspreise auf die Kunden umwälzen dürfen. Die Regierung will diesen Schock durch eine Preisanpassungsklausel oder Umlage so lange wie möglich hinauszögern, zumal einige der Entlastungen aus den beiden Anti-Inflations-Hilfspaketen der Ampel mit einem Volumen von 30 Milliarden Euro teilweise erst im August und September greifen.

21. Juli als Test

Auch die Konzertierte Aktion, die Scholz am letzten Montag im Kanzleramt mit Gewerkschaften und Arbeitgeber in die Spur gesetzt hat, erklärt sich vor diesem Hintergrund. Er will bei den Reaktionen auf die Inflation auch die Sozialpartner in die Pflicht nehmen. "Die Strategie ist, möglichst viele Gesprächspartner einzubinden, um der Bevölkerung sagen zu können, dass man wirklich alles getan habe", meint der Politologe Gero Neugebauer.

Das ist schon deshalb wichtig, weil sich Spannungen in der Ampel zeigen. Der Koalitionspartner FDP macht klar, dass der Staat jetzt nicht mit weiteren Entlastungspaketen für einen Inflationsausgleich sorgen könne. Grüne und Teile der SPD fordern aber genau dies. SPD-Chefin Saskia Esken stellt nicht nur die Schuldenbremse 2023 infrage, sondern ermutigt zudem die Gewerkschaften zum Pochen auf hohe Lohnabschlüssen. Die Arbeitgeber, Liberale und die Union wiederum plädieren eher für steuerliche Entlastungen - und Einmalzahlungen, weil diese die Inflation nicht weiter anheizen würden.

"Dass die Konzertierte Aktion erst im September Ergebnisse vorlegen will, soll beruhigend auf die nervöse Stimmung wirken", heisst es in der Regierung. Nur sind sich alle einig: Sollte Russland nach dem Ende der Wartungsarbeiten an der Pipeline Nord Stream 1 ab 21. Juli kein Gas mehr liefern, würde dies eine dramatische Zuspitzung bedeuten - und ein völliges Umdenken erfordern.

Gelbwesten als Vorbild, AFD als Profiteur?

In vertraulichen Gesprächen mit Regierungs- und Ampel-Vertretern wird deshalb immer wieder die Sorge vor einem heissen Herbst genannt - und auf Proteste wie der der "Gelbwesten" in Frankreich verwiesen. Die grassierende Corona-Pandemie und neue Einschränkungen könnten die Stimmung zusätzlich vergiften. Meinungsforscher und Politik-Experten wiegeln bei der Frage nach "Gelbwesten"-Parallelen aber deutlich ab. "Deutschland ist nicht Frankreich", betont Insa-Chef Binkert.

Auch Forsa-Geschäftsführer Matuschek erwartet nicht, dass unzufriedene Bürger nun auf der Strasse revoltieren. Beide sehen übrigens auch nicht, dass die Rechtspartei AfD von einer wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung profitieren könnte, die Linke ohnehin nicht. "Die Zahlen zeigen eindeutig, dass die Mehrheit der Bürger keiner der im Bundestag vertretenen Parteien die Kompetenz zuweisen, dass sie die Probleme des Landes lösen können - einschliesslich der AfD", sagt Binkert.

Der Berliner Politologe Neugebauer erwartet eher, dass die Grünen zulegen dürften, Insa-Chef Binkert zählt die oppositionelle Union zu den möglichen Profiteuren. Forsa-Geschäftsführer Matuschek allerdings erwartet ein ganz anderes Ventil für den Frust der Bürger im Herbst: "Die Wahlbeteiligung dürfte deutlich sinken, weil viele sagen: 'Wir trauen keiner Partei etwas zu und bleiben zu Hause'", sagt er. Zumindest das könnte dann doch eine Parallele zu Frankreich sein: Dort hatte die Zahl der Nicht-Wähler bei den Parlamentswahlen drastisch zugenommen. Wenn die Niedersachsen Anfang Oktober einen neuen Landtag wählen, dürfte der Blick deshalb mindestens so stark auf die Wahlbeteiligung gehen wie auf die Koalitions-Optionen. Scholz selbst orakelte düster, dass das eigentlich schwierige Jahr 2023 werden dürfte.

(Reuters)