"Wir sind Kanzler." Mit einem einzigen Satz brachte Saskia Esken in ihrer Bewerbungsrede zur Wiederwahl als SPD-Co-Vorsitzende das derzeitige Grundgefühl ihrer Partei auf dem Parteitag auf den Punkt. Denn die Programmpartei SPD lebt derzeit in der Euphorie, nach einer langen deprimierenden Tiefphase mit Umfragewerten um die 15 Prozent die Bundestagswahl in Deutschland gewonnen zu haben.

Wie sehr die Stimmung umgeschlagen ist, machten auch Kanzler Olaf Scholz und der neue Partei-Co-Chef Lars Klingbeil deutlich: Sie beschworen gleich ein sozialdemokratisches Jahrzehnt. Ob das allerdings kommt, hängt an verschiedenen Faktoren.

Schwäche des politischen Gegners

Der radikale Umschwung von Depression zu Euphorie ist schon deshalb interessant, weil zumindest beim politischen Rivalen Union ein ganz anderes Gefühl vorherrscht. "Die SPD hat doch weniger die Wahl gewonnen - CDU und CSU haben sie verschenkt", meint ein Bundesvorstandsmitglied mit einer gewissen Bitterkeit.

Immerhin lag die Union wenige Monate vor der Abstimmung bei mehr als 30 Prozent, die SPD dümpelt an dritter Stelle hinter den Grünen. Aber sollte sich die Union 2022 in den Landtagswahlen behaupten können und der CDU eine überzeugende personelle Erneuerung gelingen, ergäbe sich ein neues Spiel. Auch deshalb bat Scholz den SPD-Parteitag um Unterstützung für die Umsetzung des Koalitionsvertrages.

Denn die SPD-Wahlkämpfer etwa im Saarland und Nordrhein-Westfalen sollen durch schnell umgesetzte Wahlversprechen wie den Mindestlohn Rückenwind erhalten.

Eine neue Geschlossenheit

Auffallend war, wie sehr sich die Spitzenvertreter der SPD auf dem Parteitag für die Geschlossenheit der vergangenen Monate lobten - und gleichzeitig an die Delegierten appellierten, dass die Einheit anhalten müsse.

"Es gibt nicht die Basis-SPD und nicht die Regierungs-SPD", betonte der neue Generalsekretär und einstige SPD-Rebell Kevin Kühnert, der noch 2018 gegen den Einstieg seiner Partei in die grosse Koalition gekämpft und Scholz als Parteichef mit verhindert hatte. Heute ist er eingebunden und lobt auf dem Parteitag, dass man inhaltliche Spaltungen in der Sozialpolitik überwunden habe.

Das Team Klingbeil-Kühnert gilt nach parteiinterner Einschätzung als Garant, dass die SPD Scholz nicht in den Rücken fällt. Die SPD billigte den Koalitionsvertrag schon vor einer Woche mit grosser Mehrheit. Aber der Kanzler mahnte nicht ohne Grund, dass man sich lieber an der Union statt am Koalitionspartner FDP abarbeiten sollte. Ob diese innerparteiliche Geschlossenheit anhält, wenn die ersten Konflikte im Ampel-Bündnis auftauchen, bleibt abzuwarten. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich verwies darauf, dass erstmals mehr neue als alte Abgeordnete die grösste Regierungsfraktion ausmachen. Auch andere Parteien hatten die Erfahrung gemacht, dass Neueinsteiger oft mit grösserem Idealismus und vehementerer Radikalität auf die Umsetzung alter Wahlversprechen pochen.

Der Druck der Herausforderungen

Im Jubel um den neuen Status als Kanzlerpartei, die Verteilung vieler neuer Posten und die Chance, eigene Ideen nun als führende Kraft in der Regierung umsetzen zu können, ging unter, dass sowohl Scholz als auch Klingbeil durchaus mahnende Worte fanden.

Der Kanzler erinnerte daran, dass man den angestrebten Aufbruch nur vermitteln könne, wenn man den Menschen die Angst nehme, dass die grossen Umbrüche wie Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel sie selbst nicht als Verlierer zurücklassen. Das heisse aber auch, dass man dem bisherigen gut bezahlten Dieselauto-Ingenieur ebenfalls eine Zukunft bieten müsse, sagte Klingbeil. Nur lässt sich die Kluft zwischen der Neuausrichtung der Wirtschaft und den Abstiegsängsten vieler Beschäftigter nicht leicht schliessen.

Dazu können schnell hitzige Debatten in der Aussen- und Verteidigungspolitik kommen, weil es in der SPD unterschiedliche Vorstellungen etwa über den Stellenwert der Bundeswehr gibt.

Personelle Neuaufstellung

Immerhin nutzte die SPD die Chance, im Windschatten der Kanzlerwahl mit dem 32-jährigen Generalsekretär Kühnert und dem 43-jährigen Klingbeil eine deutliche Verjüngung einzuleiten. Klingbeil verwies zudem darauf, wie jung und vielfältig die neue Bundestagsfraktion geworden ist. Die SPD kann nun vier Jahre lang Talente suchen - und hat die 31-jährige Reem Alabali-Radovan zur Integrationsstaatsministerin ernannt.

Dies ist ein Hinweis, wie man den Scholz-Satz zu verstehen hat, dass die Ampel-Parteien 2025 gemeinsam die Wahl gewinnen sollten. Denn die SPD will dann ihren alten Führungsanspruch im Mitte-Links-Parteienspektrum mit Wahlergebnissen über 30 Prozent zementieren - auch auf Kosten der Grünen. 

(Reuters/cash)