cash.ch: Sie sind Analyst, aber auch ausgebildeter Arzt. Nun sorgt die Delta-Variante des Coronavirus gefühlt jeden zweiten Tag für Unruhe an der Börse. Zu Recht? 

Michael Nawrath: Die Börse reagiert immer noch nervös, aber dies hat auch etwas mit der medialen Ausschlachtung der Delta-Ausbreitung zu tun. Kein Impfstoff hat immer einen 100-prozentigen Schutz, auch nicht diejenigen, die jetzt in der Corona-Pandemie eingesetzt werden. Impfdurchbrüche werden wir immer sehen und wegen Delta auch etwas öfter, aber dies selbst wird nicht zu neuen Lockdowns führen. Die Kontrolle ist da – nur etwa 0,01 Prozent der Doppeltgeimpften werden derzeit trotzdem infiziert. Zudem scheinen die mRNA-Impfstoff das Immunsystem so zu aktivieren, dass Infizierte es nur mit milden Symptomen zu tun bekommen. Die Todesrate steigt auch nicht mehr so stark an wie im vergangenen Jahr – wir haben keine Übersterblichkeit mehr.

Die Wirtschaft in der Schweiz atmet auf, weil seit dieser Woche die Hospitalisierungsrate und nicht mehr die Fallzahlen oder Inzidenzen als Hauptkriterium für die Corona-Politik herangezogen werden. Deutschland etwa stellt noch stärker auf Inzidenzen ab. Wer verhält sich richtig? 

Eine Inzidenzrate muss im Hintergrund natürlich beobachtet werden. Sie muss aber auch separat in Altersklassen aufgeteilt betrachtet werden. Was die Schweiz jetzt macht, das Umstellen auf die Hospitalisierungsrate und damit verbunden natürlich auch die Todesfallrate als Hauptgesichtspunkte für Entscheidungen, ist sehr progressiv, aber durchaus mutig und zu begrüssen.

Wie wird der Corona-Herbst in der Schweiz? 

Ich erwarte nicht, dass wir wieder Fallzahlen in der Höhe des vergangenen Herbsts sehen werden. Der Anstieg der Zahlen wird trotz Delta-Variante geringer sein als vor einem Jahr. Die Herdenimmunität wird es allerdings auch nicht geben. 85 Prozent Durchimpfung in der Bevölkerung würde mit den heutigen Varianten dafür nötig sein, es werden aber noch mehr Varianten kommen. Und: Es geht alles in Richtung einer Booster-Impfung. 

Die Booster-Impfung oder dritte Impfung gibt es schon für über 60-Jährige in Israel. Andere Länder werden ähnliches wohl auch beschliessen. Bedeutet dies auch gute Aussichten für die mRNA-Impfstoff-Entwickler Biontech und Moderna?

Es wird nicht nur diese dritte Impfung sein, es wird immer wieder Auffrisch-Impfungen brauchen, und zwar nach meiner Einschätzung alle neun bis zwölf Monate. Corona verursacht viel schlimmere Krankheitsbilder als die Grippe, und es wird bei der hohen Mutationsrate von Corona neue Varianten geben. Bei mRNA können die Impfstoffe aber schnell auf neue Varianten angepasst werden. Es ist ein Riesenglück, dass diese Technologie genau zum jetzigen Zeitpunkt marktreif geworden ist. 

Die Kurse von Biontech und Moderna sind enorm angestiegen: 340 respektive 270 Prozent seit Anfang Jahr. Ist es Ihrer Ansicht nach richtig, dass nun viele Analysten vom Kauf der Aktien abraten? 

Natürlich sind diese Aktien gehyped worden. Biontech und Moderna mit jeweils einem Produkt auf dem Markt, dem Vakzin, sind an der Börse so hoch bewertet wie ein grosser Pharmakonzern mit Hunderten von Produkten am Markt. Aber Investoren müssen auch darauf schauen, was nach Corona kommt. mRNA ist 'the next big thing' in der Medizinforschung nach den Antikörpern, deren Siegeszug durch Roches Mabthera vor 25 Jahren begann. Wir wissen jetzt beispielsweise, dass die Abbau-Produkte der RNA keine nennenswerten toxischen Nebenwirkungen haben. Deswegen und wegen der notwendigen Auffrischungimpfungen und auch der Expansion der mRNA-Technologie in fast alle anderen Krankheitsgebiete kann der Investor immer noch in die Aktien von Biontech oder Moderna einsteigen, entgegen der vielen kritischen Analystenmeinungen aufgrund der hohen Kapitalisierungen. Es gibt bei mRNA-Vakzinen auch keine Konkurrenz, die Biontech und Moderna das Geschäft so schnell streitig machen können. Der mRNA-Impfstoff von Curevac dürfte eher ein Schattendasein führen. 

Trifft Ihre optimistische Prognose auch auf Vektor-Impfstoffe zu, wo AstraZeneca die bekannteste Entwicklerin ist? 

Nein. In Kombination mit anderen Vakzinetypen wie mRNA dürften Vektor-Impfstoffe besonders bei den Booster-Impfungen eine Rolle spielen. Wenn wir allerdings das Unternehmen AstraZeneca mit Biontech und Moderna vergleichen, vergleichen wir Äpfel mit Birnen. Der Börsenverlauf bei AstraZeneca ist auch ohne Impfstoff gut, das Unternehmen ist nicht alleine vom Vektor-Impfstoff abhängig. Der 'positive' Nebeneffekt der dramatisch schlechten Berichterstattung über den AstraZeneca-Impfstoff Anfang dieses Jahres ist übrigens, dass die Erwartungshaltung, dass der Vektor-Impfstoff etwa ein Mega-Blockbuster werden könnte, gar nicht aufkam. AstraZeneca ist eine superbe, dynamisch aufgestellte Pharmafirma, seit Pascal Soriot von Roche 2013 als CEO die Führung übernommen hat. Der Börsenkurs hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt.

Weshalb entwickelt sich der Kurs von Novartis nicht besser? 

Eine richtige Phantasie kann Novartis beim Investor mit der derzeitigen Pipeline nicht generieren. Ich sehe bei Novartis kein neues Gentherapieprojekt. CEO Vas Narasimhan hat vor zwei Wochen zwar vollmundig die Erschliessung eines Multimilliarden-Marktes für sein Zolgensma nun auch für ältere Kinder und nicht nur Babys angekündigt. Jedoch muss nach einem über einjährigen Stopp der Entwicklung erst einmal eine neue finale Phase-III-Studie durchgeführt werden sowie die entsprechende Zulassung erteilt werden. Zusätzlich ist ernst zu nehmende Konkurrenz durch Roches Evrysdi bereits auf dem Markt. Dererlei blumige Vorankündigungen für ein Produkt, das frühestens in zwei Jahren die Marktzulassung erhalten könnte, kommt beim Investor nicht an. Es fehlt weiterhin eine Vertrauensbasis. Denn Novartis musste wegen Korruptionsfällen zwischen 2002 und 2011 insgesamt über 1,3 Milliarden Dollar Strafe zahlen. Diese Probleme liegen zwar in der Vergangenheit, aber nachhaltigkeitsbewusste Investoren haben ein Langzeitgedächtnis. Novartis hat in den vergangenen Jahren auch sehr viel – vielleicht zu viel – für Übernahmen ausgegeben, die sich erst noch ausbezahlen müssen. Und, Novartis ist weder bei der Impfstoff- noch der Therapeutika Entwicklung gegen Corona aktiv.

Was ist bei Roche anders? 

Eine gute Performance beim Roche-Genussschein sehen wir erst wieder seit April. Roche ist im Gegensatz zu Novartis in der Entwicklung von Corona-Therapeutika tätig. In Zusammenarbeit mit Atea Pharmaceuticals aus den USA arbeitet Roche an einem Mittel, welches das Virus direkt angreift. Mit Regeneron arbeitet Roche bei den Antikörper-Cocktails zusammen. Diese sollen in den USA nach ihrer Notfallzulassung bald eine vollständige Zulassung erhalten. 

Roche hat dank Corona-Tests im ersten Halbjahr vor allem in der Diagnostik viel Umsatz generiert. Ist dies ein valables Standbein?

Bei der Diagnostik sehen wir keine Riesen-Zahlen. Für die Profitabilität ist diese Roche-Sparte immer etwas ein Hemmschuh gewesen. Da kommen viel mehr als 20 bis 25 Prozent Marge nicht heraus, gegenüber 40 Prozent und mehr bei Pharma. Aber, die Diagnostik hat einen extrem starken Umsatzanstieg gezeigt, und die "Routine-Diagnostik" ausserhalb der Corona-Tests hat noch nicht das Niveau von vor der Krise erreicht. Roche hat 21 verschiedene Tests im Angebot und hat da viel auf den Markt gebracht. Das war schon extrem produktiv. Der starke Umsatzanstieg dürfte allerdings ab dem zweiten Halbjahr etwas zurückkommen.

Mit guten Folgen für den Kurs? 

So wenig für die Bekämpfung der Pandemie macht Roche nicht, dies hat auch der Investor gesehen. Aus den Therapeutika kann ja auch noch etwas werden. Das sind keine Multimilliarden-Blockbuster, aber ich bin sowieso dafür, bei Pharmafirmen nicht nur auf die Quartalszahlen zu achten.

Sie sprechen davon, dass nicht nur Umsatz, Gewinn und Margen oder Ausblicke eine Rolle spielen sollten. 

Eine Rolle spielt für Pharma ESG - Environment, Social und Governance. Besonderes Augenmerk liegt dabei vor allem auf den Zugang zu Medikamenten auch in ärmeren Ländern sowie die Datenmanipulationen oder Korruptionen und Bestechungsaffären bei Ärzten. Gerade 'Social' und 'Governance' sind ein wichtiges Thema - Environment, also CO2-Ausstoss, fällt bei Pharmafirmen dagegen nicht so ins Gewicht.

Nennen Sie ein Beispiel.

Biontech will auch einen mRNA-Impfstoff gegen Malaria entwickeln und die Produktion von diesem auch gleich in Afrika aufbauen. Dies wird nicht in riesige Gewinne münden, ist aber ein Beispiel für verantwortungsvolles soziales Handeln. Novartis forscht seit vielen Jahren gegen Malaria, aber dies geht nicht schnell voran, vermutlich weil Novartis auch weiss, dass damit keine riesigen Profite erwirtschaftet werden können. Genau riesige Profite wollten bisher aber Investoren sehen und machten dadurch Druck auf die Geschäftsführung. Ich kann mir in Zukunft vorstellen, dass bei Investoren ein Umdenken stattfinden wird. Unternehmen werden Geld anziehen, auch wenn sie keine Mega-Blockbuster entwickeln. 

Fangen die Märkte an, dahingegend umzudenken? Oder beobachten Sie, dass dieser Prozess schon vorangeschritten ist? 

Wir stehen am Anfang. Die Mehrheit der Analysten ist weiterhin auf die Zahlen fixiert. Es gibt ein 'ungesundes' Verhältnis zwischen Investoren, Analysten und Pharmafirmen. Der Investor schaut, ob die Erwartungen der Analysten erfüllt sind, oder nicht, aber auch die Pharmafirmen versuchen dauernd, den hohen Erwartungen gerecht zu werden. Roche und Novartis versuchen ja immer ein Schrumpfen des Umsatzes zu verhindern. Die Pharmafirmen müssten stattdessen besser kommunizieren, weswegen der Umsatz auch mal sinkt und die Marge wegen bestimmter Investitionen nicht durch die Decke geht. Dann, so vermute ich, ist der Investor bereit, in soziale Verantwortung zu investieren. 

Wie geht es weiter? 

Ich glaube, dass die Fixierung auf Quartalszahlen nicht mehr so lange Bestand haben wird. Betrachtungen zu 'über Konsens' oder 'unter Konsens' werden weniger wichtig sein. Kein Analyst kann so oder so genau voraussagen, wie bei einem global operierenden Pharmakonzern mit über 100'000 Mitarbeitern die Marge von Quartal zu Quartal sich entwickeln wird. Wir werden eine neue Balance bekommen, zwischen der Pharmafirma selbst, Analysten und Investoren.

Michael Nawrath ist Pharmaanalyst und Arzt. Er war bis Februar 2021 Leiter der Analyse für Pharma- und Biotechunternehmen bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB). Er praktizierte als Mediziner fünf Jahre in Berlin und sieben Jahre am Universitätsspital Zürich. Nawrath war auch in der klinisch orientierten Forschung tätig.