Experten überboten sich lange mit negativen Wirtschaftsaussichten. Der Ifo-Index aus Deutschland zeigt jetzt eine überraschende Stimmungsaufhellung bei den Unternehmen. Ist die Lage weniger dramatisch als befürchtet?

Wissen Sie, eine Schwalbe macht noch lange keinen Frühling. Der Ifo-Index ist ein wichtiger Index, klar. Doch es handelt sich um einen Composite-Index, der viele Wirtschaftsbereiche zusammenfasst. Zerlegt man ihn, sieht es vor allem bei der Auftragslage der Unternehmen alles andere als rosig aus. 

Wie schlimm ist es?

Wir befinden uns leider immer noch ziemlich im Blindflug – und damit meine ich auch uns Ökonomen. So eine Krise war einfach noch nie da. Das klingt zwar nach Ausrede, entspricht aber nun einmal den Tatsachen. Auch wenn mir da manche meiner Kollegen widersprechen: Die Folgen einer derart komplexen Krise lassen sich schlicht und einfach nicht modellieren. Wer etwas anderes behauptet, der lügt in meinen Augen.

Aber auch Sie blicken in die Zukunft. Wie gehen Sie vor?  

Wir treffen ganz einfach Annahmen darüber, wie gross der Ausfall in den einzelnen Branchen sein wird. Diese Hypothesen versuchen wir dann aufzuaddieren, um daraus die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) abzuleiten. So erhalten wir eine ungefähre Grössenordnung. Wer eine bessere Idee hat, darf sich gerne mit mir in Verbindung setzen.

Und zu welcher Prognose kommen Sie?

Ich gehe tatsächlich von einem Wirtschaftseinbruch historischen Ausmasses aus. In Zahlen heisst das für dieses Jahr etwa fünf Prozent des BIP. Das Problem: Der Einbruch lässt sich nicht so schnell wieder aufholen, wie manche derzeit hoffen. Die vielzitierte V-Erholung, also dass wir wirtschaftlich ganz schnell wieder auf das alte Niveau kommen, halte ich für absolut ausgeschlossen.

Die Aktienmärkte scheinen derzeit eine andere Meinung zu haben…

Ich habe mehrere Erklärungen für die jüngste Aufholrally. Einerseits sind gerade in den USA die Tech-Konzerne der grosse Treiber der Rally. Der Aktienmarkt wäre ohne die Tech-Titel insgesamt weitaus tiefer im Minus. Bei uns sind es die in Krisen stets gesuchten defensiven Blue Chips, welche das Bild etwas schönfärben. Andererseits hatten wir bis in den März hinein eine extreme Überreaktion an den Märkten. Es handelt sich also weniger um eine Euphorie an den Märkten, wie oft gesagt. Vielmehr ist es eine Korrektur der übertriebenen Ängste vor dem Virus, die im Februar und Anfang März das Marktgeschehen beherrschten.

Wird die Aufwärtsbewegung also demnächst ein Ende finden?

Eher schon, ich kann mir nur schwer vorstellen, dass bis Ende Jahr die Vorkrisenniveaus an den Aktienmärkten wieder erreicht werden. Dafür braucht es mehr Gewissheit. Wenn die Zahlen für das zweite Quartal kommen, wissen wir 'lediglich' einmal, ob die Analysten die Erwartungen weit genug nach unten geschraubt haben. Ich halte jedenfalls die eine oder andere böse Überraschung für möglich.

Und wenn wir jetzt über 2020 hinausblicken?

Wann wir das alte Niveau wieder erreichen, kann niemand genau sagen. Ich bezweifle allerdings, dass die Nachfrage sofort wieder zurückkommen wird, sobald das Angebot wieder da ist. Ich glaube nicht, dass die Leute massenweise in die Flugzeuge steigen werden, sobald dies wieder in grösserem Umfang möglich ist. Diese Krise ist keine Eintagsfliege. Wie lange sie noch Auswirkungen hat, kann man schlicht nicht vorhersagen. Dafür gibt es zu viele Unsicherheiten.

Die Neu-Ansteckungen in der Schweiz bewegen sich trotz Lockerungen seit Wochen auf sehr tiefem Niveau. Waren die Lockdown-Massnahmen des Bundesrats zu streng?

Diese Kritik teile ich überhaupt nicht. In ein paar Jahren werden wir vielleicht wissen, was richtig oder falsch war. Wir kennen weder das Virus noch den genauen Grund, warum die Fälle jetzt zurückgehen. Natürlich kommen jetzt manche Kritiker, die behaupten, das sei doch alles nicht nötig gewesen. Die machen es sich aber extrem einfach und blenden das gesundheitliche Risiko, welches wir selbst heute noch nicht genau kennen, völlig aus. Jetzt im Nachhinein die Politik zu kritisieren, finde ich fast schon schäbig. Man stelle sich den Fall vor, der Bundesrat hätte lax gehandelt und das Virus die Schweiz erstickt. Wäre das wirklich die willkommene Alternative der Kritiker?

In einem Interview mit cash.ch im März sind Sie mit den Notenbanken hart ins Gericht gegangen. Bleiben Sie bei Ihrem negativen Urteil?

Damals ging es vor allem um die markante Zinssenkung der Fed, die als Überreaktion zur aufkommenden Corona-Krise recht plötzlich kam und komplett verpufft ist. Allerdings haben sowohl Fed als auch EZB danach mit einem zweiten 'Whatever it takes' kräftig nachgelegt. Das hat mit Sicherheit eine gewisse Beruhigung gebracht. Trotzdem glaube ich weiterhin, dass die Geldpolitik die Realwirtschaft nicht wieder aufrichten kann. Zudem kann die Fiskalpolitik lediglich Schäden abfedern. Einen 'V-Rebound' wird sie aber nicht verursachen, wie manche derzeit hoffen. Die Corona-Krise ist das grösste wirtschaftliche Desaster der Nachkriegszeit. Man sieht das schon jetzt, man betrachte nur die Daten des US-Arbeitsmarktes.

Wie bewerkstelligt man, dass das Geld diesmal wirklich in die Realwirtschaft geht und nicht wieder in den Bilanzen der Banken landet?

Das ist genau der Punkt. Die Geldpolitik schiesst seit rund zwölf Jahren an der Realwirtschaft vorbei. Sie ist laufend bemüht, an den Finanzmärkten für Ruhe zu sorgen. Das machte mit der Lehman-Pleite 2008 seinen Anfang, ging über zwei Euro-Krisen, den Frankenschock in der Schweiz bis zur heutigen Corona-Krise. Immer sind die Notenbanken an vorderster Front, um Verwerfungen an den Finanzmärkten zu korrigieren. Das führte dazu, dass der Realwirtschaft immer nur kleine Brosamen in Form von günstigen Finanzierungsmöglichkeiten übrigblieb. Hinzukommt vielleicht noch die niedrige Inflation, die eine gewisse Kaufkraft sichert, doch dies ist kein geldpolitischer Verdienst. Im Gegenteil, man will ja Inflation generieren, und dies seit mehr als zehn Jahren und ohne Erfolg. Das sagt alles über die Wirksamkeit der Geldpolitik.  

Ein Bereich, in dem die Inflation seit vielen Jahren stattfindet, ist der Schweizer Immobilienmarkt. Steigt durch die Corona-Krise die Gefahr von Verwerfungen am Markt?

Ich bin da für die Schweiz eigentlich ziemlich entspannt. Vor allem im Bereich des selbstgenutzten Wohneigentums, also Eigentumswohnungen und Einfamilienhäuser. Dort sehe ich sogar noch Raum nach oben.

Was macht Sie optimistisch?

Zum einen sorgen die fiskalpolitischen Massnahmen mit ihren automatischen Stabilisatoren wie Arbeitslosenversicherungen, Kurzarbeit und so weiter durchaus für eine gewisse Absicherung gegen unten. Zweitens sind Immobilienbesitzer heute ganz anders finanziert als etwa vor dem Immobilien-Crash in den 1990er-Jahren. Die finanzielle Tragbarkeit ist heute viel mehr gegeben als damals. Ein klein wenig anders ist es in der jetzigen Krise bei den Gewerbeliegenschaften, Stichwort Mieterlass oder Haftung. Da herrschen derzeit noch Unsicherheiten vor allem rechtlicher Natur. Das wird in diesem Jahr sicher ein paar Basispunkte Rendite fressen. Aber gross beunruhigt bin ich auch hier nicht, denn die relative Attraktivität der Immobilienanlage bleibt gegeben.

Martin Neff (*1960) ist seit 2013 Chefökonom von Raiffeisen Schweiz. Davor war der studierte Ökonom bei der Credit Suisse in verschiedenen Führungspositionen im Bereich Research tätig. Nach dem Studium in Konstanz und einem Abstecher zum Schweizerischen Baumeisterverband war die damalige Schweizerische Kreditanstalt (SKA) seine erste Station in der Bankenwelt.