Mit Werbung für eine elektrische Zahnbürste hat das Unheil für Anna angefangen. Innerhalb weniger Wochen erbeuteten Internet-Betrüger 200'000 Pfund von der 78-jährigen Witwe, ihre gesamten Ersparnisse. "Ich bin immer noch ganz schockiert", sagt Anna, die ihren vollständigen Namen nicht nennen möchte. "Die Schuldgefühle und die Scham sind nicht zu beschreiben."

Online-Kiminalität ist nirgendwo auf der Welt so schlimm wie in Grossbritannien. Die superschnelle Zahlungsinfrastruktur, relativ laxe Kontrollen und das Englisch als die am meisten benutzte Sprache machen das Land zu einem Eldorado für Betrüger.

"In den vergangenen zwölf Monaten haben wir so viele Betrugsfälle erlebt wie noch nie", sagt Ayelet Biger-Levin von der auf Cyberkriminalität spezialisierten Unternehmensberatung Biocatch. "Die ausgeklügelsten Betrugssysteme fangen in Grossbritannien an, gehen etwa zwei Jahre später in die USA und dann rund um die ganze Welt". Im ersten Halbjahr haben Betrüger im Vereinigten Königreich 754 Millionen Pfund - umgerechnet eine Milliarde Dollar - erbeutet, wie Daten des Bankenverbands UK Finance zeigen. Das waren 30 Prozent mehr als vor einem Jahr und 60 Prozent mehr als zu Beginn der Aufzeichnungen 2017. Die Betrugsfälle werden auch immer ausgeklügelter, wie Biger-Levin erläutert. Hacker klauten massenhaft persönliche Daten von Verbrauchern im Internet, die Betrüger dann ausnutzten.

Die Rentnerin Anna bekam wenige Minuten, nachdem sie bei der Online-Bestellung der elektrischen Zahnbürste ihre Kontodaten eingegeben hatte, einen Anruf ihrer Bank, die ihr mitteilte, einem Betrüger aufgesessen zu sein. Am folgenden Tag meldete sich telefonisch ein Robert Clayton von der britischen Finanzaufsichtsbehörde FCA und versicherte ihr, man werde die Kriminellen zur Verantwortung ziehen. Ihre Ersparnisse seien aber womöglich verloren. Das war alles Teil des Betrugs, wie sich später herausstellte. Es gab keine Zahnbürste und keinen Robert Clayton. Ob Anna ihr Geld je wiedersieht, ist unsicher.

Gefälschte Internetseiten

"Wir haben Fälle gesehen, in denen sich ein Betrüger drei oder vier Jahre lang als jemand anderes ausgegeben und mit dem Betroffenen telefoniert hat, bevor er der Person tatsächlich einen grösseren Geldbetrag stahl", sagt Brian Dilley, Gruppenleiter für die Prävention von Wirtschaftskriminalität bei Grossbritanniens grösster Bank Lloyds. Deena Karia verlor Anfang Februar 10'000 Pfund, nachdem sie über die Vergleichs-Website MoneySuperMarket eine Anleihe gekauft hatte, die angeblich von der Schweizer Bank Credit Suisse herausgegeben wurde. Sie vermutet, dass sie auf einer Fake-Website gelandet ist.

Der Original-Anbieter von MoneySuperMarket warnte Mitte Februar vor solchen geklonten Internetseiten mit Telefonnummern, über die Betrüger erreichbar wären. Das Unternehmen arbeite mit der Aufsichtsbehörde FDA zusammen und habe den Vorfall der Polizei gemeldet. Karias Hausbank Barclays hat bislang nur die Hälfte des Geldes zurückerstattet und ihr gesagt, sie hätte besser aufpassen sollen. Der Fall werde geprüft und man warte auf die Ergebnisse, erklärte Barclays.

Ein Angriffspunkt für die Betrüger ist das superschnelle Online-Bezahlverfahren in Grossbritannien. Überträge zwischen Bankkonten werden dort in Sekundenschnelle getätigt und brauchen nicht Stunden oder gar Tage wie in den USA und anderen Ländern. "Die schnelleren Zahlungsverkehrsysteme machen schnellen Betrug überhaupt erst möglich", sagt Richard Emery, der Anna und 63 andere Betrugsopfer berät, die im Schnitt 102.000 Pfund verloren haben. Die Firma Pay.UK, die das Zahlungsverkehrsnetzwerk betreibt, erklärt, die britische Wirtschaft, Verbraucher und Unternehmen hätten durch die Schnelligkeit grosse Vorteile. Aber Kriminelle würden immer besser darin, die Digitalisierung für ihre Zwecke zu missbrauchen. Das Unternehmen arbeite mit den Behörden zusammen, um gegen Betrug anzukämpfen.

Zu wenig Unterstützung durch die Polizei

Auch die britischen Banken bemühen sich verstärkt um Schadensbegrenzung - auch aus Eigeninteresse. Sie stehen in der Regel für die Verluste ihrer Kunden gerade. HSBC hat in nur einem Jahr 300 Mitarbeiter neu eingestellt, die sich um das Vermeiden und Aufdecken von Bankbetrug kümmern sollen. "Das Vereinigste Königreich ist die Brutstätte für Betrüger", erklärt die Bank. Etwa 80 Prozent der weltweiten Verluste des Instituts durch Betrug an Privatkunden entfielen auf Grossbritannien.

Lloyds investierte nach eigenen Angaben in den vergangenen zwei Jahren rund 100 Millionen Pfund in Kontrollsysteme. Bei NatWest sind zehn Prozent der Mitarbeiter - also 6000 Menschen - nur mit Finanzkriminalitäts-Themen beschäftigt.

Die Banken machen Druck auf die britische Regierung, auch soziale Plattformen wie Google, Amazon und Facebook in die Pflicht zu nehmen. Ihrer Ansicht nach beginnt dort oftmals der Onlinebetrug. Die Regierungsbehörde NECC zur Bekämpfung von Finanz-Kriminalität klagt über zu wenige Unterstützung durch die Poizei. Nur etwa ein Prozent der Polizeiressourcen sei der Betrugsbekämpfung gewidmet, obwohl dies mehr als ein Drittel der ganzen Kriminalität in England und Wales ausmache, sagt Chris Reed von der NECC. "Die verfügbaren Ressourcen stehen in keinem Verhältnis zu dem Ausmass und der Schwere der Betrugsfälle. Da muss noch ein grosser Berg erklommen werden."

(Reuters)